Das echte Leben. Der echte Tod.

von Peter Löcke //

Real Life. Der Anglizismus „real life“ begegnet mir immer häufiger. Gemeint ist das echte Leben in Abgrenzung zum virtuellen Dasein. Gibt es diese Abgrenzung überhaupt noch? Oder verschmelzen die Grenzen zwischen wirklicher Wirklichkeit und digitaler Realität nicht längst? Ich begebe mich auf Spurensuche. Zunächst bei mir selbst.

Ich oute mich als analoger Romantiker. Und doch schreibe ich diese Zeilen digital und übermittle die Kolumne anschließend per Mail als Dateianhang. Zu Papier und Stift greife ich kaum noch. Meine schöne Handschrift, auf die ich einst so stolz war, ist zu einer Sauklaue verkommen. Selbst das Unterzeichnen eines Dokuments – darin steckt das Verb zeichnen – geschieht bei mir oft digital. Meine Unterschrift liegt schließlich als Scan in einem Ordner auf meinem Laptop. Immer wieder nehme ich mir vor, einen Brief oder zumindest eine Postkarte zu schreiben. Immer wieder bleibt es beim Vorhaben. So romantisch scheine ich dann doch nicht zu sein, auch wenn ich mir bei anderen Dingen, wie etwa Büchern, die analoge Welt bewahrt habe. 

E-Books ersetzen wirkliche Bücher. Dafür gibt es selbstverständlich tausend gute Gründe. Auf einen E-Book-Reader passen nämlich Tausende von Büchern. Es handelt sich um eine transportable Bibliothek auf etwa siebzehn mal zwölf Zentimeter Fläche. Kann ich in und mit diesen E-Books arbeiten? Nein. Ich benötige die Stärke und den Geruch des Papiers, ich brauche es haptisch, ich möchte mit meinen Fingern vor- und zurückblättern und nicht nur mit dem Zeigefinger scrollen. Ein analoges Buch schreibt neben der Geschichte des Buches eine zweite ganz persönliche Geschichte. Das können Eselsohren sein, das kann die Widmung eines lieben Menschen beim Aufschlagen des Buches sein oder auch der Kaffeefleck auf Seite 114, der mich daran erinnert, wie tollpatschig ich mal wieder war.

Chats ersetzen wirkliche Dialoge. Dass ein Gespräch face to face, von Angesicht zu Angesicht stattgefunden hat, wird mittlerweile betont. Es scheint die analoge Ausnahme einer digitalen Regel zu sein. Wie beim Thema Buch gibt es auch hier gute Argumente für eine solche Form der Kommunikation. Online ist effektiver, spart Zeit und Geld, gerade im beruflichen Kontext. Nur bleiben Gestik und Mimik dabei auf der Strecke. Emoji hin oder her – der Tonfall des Gesagten bleibt ebenso auf der Strecke. War es liebevoll, augenzwinkernd, sarkastisch oder rein informativ gemeint, was mich da gerade per WhatsApp erreicht? Das, was im Subtext mitschwingt, geht verloren. Langfristig verloren geht dabei die menschliche Fähigkeit von Angesicht zu Angesicht zu sprechen. Analoge Kommunikation ist nicht wie Fahrradfahren. Man kann sie verlernen für den Fall, dass man sie überhaupt erlernt hat.

Sehen, hören, riechen, schmecken, tasten. Die menschlichen Sinne, die Sinnlichkeit  geht verloren. Es ist nicht verwunderlich, dass dieser Verlust bis in den körperlichen Bereich hineingeht. Cybersex statt Leibersex! Nein, ich mache keine Witze. Die macht nur regelmäßig ein Kollege von mir am Tresen. Zuletzt brachte er diesen zotigen Kalauer: „Früher habe ich nach dem Sex eine Zigarette geraucht. Heute lösche ich den Browserverlauf.“ Humor ist Geschmackssache. Dennoch steckt auch hier ein Funken Wahrheit drin.

Vielleicht übertreibe ich ja in allen Punkten. Dann liegt die Wahrheit darin, dass ich ein Ewiggestriger bin. Wirkliche Sorgen mache ich mir nur in einem Punkt. Ich habe Angst vor einem größeren Krieg. Die drohende Gefahr eines atomaren Krieges erscheint mir weitaus größer als in den 1980ern und 90ern. Damals, zu analogen Zeiten hat diese Gefahr Millionen Bürger auf die Straße bewegt. Heute, in der virtuellen Traumwelt des Jahres 2024, bleiben die Menschen auf ihrem Sofa sitzen. Woran liegt das? Es liegt zumindest auch am digitalen Zeitalter, das die Menschen abstumpfen lässt für tatsächliche Gefahren. Ich erlebe den Krieg als medialen liveticker, in einer Mischung aus Computer- und Fußballspiel. 

Wie stehts denn gerade bei den Spielen? Bayern führt 1:0 gegen Augsburg und kurz vor Schluss fallen zwei weitere Treffer. Wie schön! Die Ukraine liegt im Parallelspiel gegen Russland zurück. Das ist nicht so schön. Also müssen wir die Spieler Taurus und Co einwechseln, um die Niederlage noch abzuwenden. Ich durfte lesen, dass sich der designierte neue Kanzler Friedrich Merz keine Sorgen wegen eines möglichen Atomkriegs macht, um im nächsten Moment am Rad und der Eskalationsspirale zu drehen. Ich mache mir schon Sorgen, Herr Merz. Ich schon. Außerdem mache ich mir Sorgen, wie wenig Sorgen sich mein Umfeld macht. Die gleichen Menschen, die Todesängste wegen eines Virus und wegen des Wetters im Jahr 2050 durchleben, verspüren keine Ängste, was einen dritten Weltkrieg angeht. Virtuelle und tatsächliche Realität verschmelzen von Tag zu Tag mehr. Doch diese taubstumme Wahrnehmung des real life ist für mich nicht real. Sie ist surreal, weil sie den real death, den echten Tod, ignoriert. Im echten digitalen Leben des 21. Jahrhunderts kann man nicht einfach offline gehen.

Warum nur spüren das gerade so wenige Menschen? Warum nur spürt das vor allem die Generation Schneeflocke nicht? Gerade in der Jugend, in der Schule, in den Universitäten müsste gerade der Punk abgehen und Widerstand geleistet werden. Eine eventuelle Antwort auf das „Warum“ liegt in meiner Jugend, als ich noch Punkmusik gehört habe. Noch zu analogen Seiten des 20. Jahrhunderts beschrieb die Band „Bad Religion“ in weiser Voraussicht den digitalen Jugendlichen des 21. Jahrhunderts. Der Refrain des Songs geht, frei ins Deutsche übersetzt, so: 

Weil ich ein digitaler Junge des 21. Jahrhunderts bin.
Ich weiß nicht, wie man lebt, aber ich habe eine Menge Spielzeug.
Mein Vater ist ein fauler Intellektueller aus der Mittelschicht.
Meine Mama ist auf Valium, so uneffektiv.
Ist das Leben nicht ein Rätsel?

Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht in jedem Fall die Meinung des Herausgebers wieder.

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5 Antworten

  1. „Einen Atomkrieg, abgesehen von einem unwahrscheinlichen „Unfall“, wird es nicht geben.“ Genau dieser Satz, und die dahinter stehende Sicherheit, sind gefährlich, weil sie das „Gleichgewicht des Schreckens“, das uns siebzig Jahre Frieden brachte, untergraben. Es bedeutete, dass keine atomare Großmacht glaubte einen Atomkrieg gewinnen zu können. Auf den Erstschlag folgt der Zweitschlag! Das war die Gewissheit, die den Frieden aufrecht erhielt. Bemühungen die Zweitschlagfähigeit des Gegners herabzusetzen, wurden durch die Beschränkungen zur Aufstellung von Mittelstreckenraketen gesichert und ggf. konterkariert. Auf SS20 folgte Pershing 2 und am Ende der INF Vertrag von 1987. 2019 stiegen die USA aus dem INF Vertrag aus. Russland und die USA bezichtigten sich gegenseitig, den Vertrag unterlaufen zu haben. Seitdem ist die Welt unsicherer, weil beide Seiten (oder nur die USA?) glauben, die Zweitschlagfähigkeit des Gegners ausschalten zu können. Ein gefährlicher Gedanke, weil er das Gleichgewicht des Schreckens untergräbt. Die Hyperschallwaffen, atomar oder konventionell bestückt, die momentan nur Russland besitzt, verlagern das Spiel zu Russlands Vorteil auf eine neue Ebene: Russland hat eine konventionelle Option mehr als die USA, um zB im Ukraine Krieg, den Angriff mit konventionellen Kurzstreckenraketen, wie ATMACS oder Taurus, zu kontern. Und sie können, da sie mit Mach 10 anfliegen kaum abgefangen werden. Russland zeigte mit dem ersten Einsatz letzte Woche, dass es unterhalb der atomaren Schwelle (die neu definiert wurde) über einen Joker, der sticht, verfügt. (Was macht die NATO eigentlich mit dem 10 fach höheren Budget?) – Dennoch ist der Glaube, dass es keinen Atomkrieg (besser taktischen Atomschlag, der zu einem Atomkrieg führt) geben wird, gefährlich, weil er zu Leichtsinn verführt, nämlich zu dem Glauben, man könne eine atomare Großmacht in einem Stellvertreterkrieg konventionell besiegen – und die würde sich dann schon geschlagen geben, ohne taktische Atomwaffen einzusetzen.

    1. Das sehe ich im Grunde genauso, jede Situation, die den Gegner mit dem Rücken zur Wand sieht, könnte einen Atomschlag und entsprechende Gegenschläge auslösen. Taktische Atomwaffen anzuwenden ist ebenfalls hochgefährlich für eine Eskalation zu einem Atomkrieg und deswegen ist beides sehr unwahrscheinlich. Was sollen denn die ganzen Bonzen mit einer nuklear verstrahlten Riviera o.ä. anfangen?

  2. Gut beobachtet. Der Wechsel von analog zu digital bringt mehr Veränderung mit sich als mancher glaubt. Es entsteht tatsächlich eine Cyberwelt in der man sich bewegt – als Mensch – Maschine Schnittstelle. Im modernen Auto mit seinen vielen digitalen Helferlein ist das sehr offensichtlich. Der Fahrer schaltet den Road Assist ein und nimmt die Füße vom Pedal. Cybersex schlägt Realsex, um Längen. Die moderne Gesellschaft ist oversexed and underfucked. Computerspiele simulieren eine Parallelwelt in der sich viele verlieren. Man kann Flugzeuge fliegen mit Google. Und wenn der Crash droht, drückt man die Resettaste. – Nun sage keiner, dass das nicht das Bewusstsein verändert, die Wahrnehmung von Realität. Hinzu kommt: Alles was wir heutzutage über die Welt wissen, wissen wir über die Medien, sagt Luhmann. Damit lässt sich Wirklichkeit perfekt framen und zu etwas digital-realem umdeuten. Fällt die Atombombe, drückt man die Resettaste. – Dass sie nicht fällt, schiebt der moderne Mensch an seine politischen Helferlein ab. Er glaubt tatsächlich die werden das schon für ihn regeln. So wie die vielen digitalen Assistenzsysteme. Krieg? War gestern. Google, Microsoft oder Apple werden den doch wohl verhindern, oder? Nur manchmal fragt sich der postmoderne Mensch noch, ob die vielen Toten in Jugoslawien, im Irak, in Afghanistan, im Jemen, in Syrien, in Lybien und in der Ukraine tatsächlich echt sind? Und warum da keiner die Resettaste gedrückt hat? Aber besser nicht nachfragen, das wäre sowas von Oldschool. Ist sicher nur ein Softwarefehler. Und außerdem so weit weg von uns modernen Menschen. Jetzt ist erst mal Weihnachten. Es gibt da übrigens ein digitales Krippenspiel – so was von putzig!

  3. Einen Atomkrieg, abgesehen von einem unwahrscheinlichen „Unfall“, wird es nicht geben. Kein Wunder, dass Friedrich vom Schwarzen Stein keine Angst hat – ich auch nicht. Diese neue russische Rakete bedeutet, dass die Flugzeugträger Geschichte sind, damit sind die Karten neu gemischt. Die US-Allianz ist für die nächste Zeit in Bezug auf konventionelle Waffen wehrlos. Alle damit Befassten wissen Bescheid, das, was wir medial erleben, ist, wie so oft, Theaterdonner, der Angst schüren soll. Verängstigte Bürger sind nicht souverän, vielleicht ist es so einfach. Den USA wird Kontinentaleuropa, noch verstärkt unter Trump, zunehmend egal werden. In der Wirkung richtet sich der Krieg in der Ukraine tatsächlich gegen unsere Interessen, während gleichzeitig die ukrainischen und russischen Wehrpflichtigen und Freiwilligen zu Hunderttausenden sterben oder verwundet werden. Auf beiden Seiten passieren, unvermeidlich im Krieg, Kriegsverbrechen gegen die Zivilbevölkerung. Die Umfragen belegen, dass nahezu niemand glaubt, dass, außer BSW und AfD, irgendein politisch Verantwortlicher Frieden will. Gleichzeitig wollen drei Viertel der Menschen ein Ende der Gewalt. Wie legitimiert die politische Klasse ihre Agenda gegenüber der Bevölkerung? Wissen Sie es besser als wir? Wollen sie ihrem Wählern gerecht werden oder sind sie ihnen, frei nach Baerbock, egal? Diese Fragen stellen sich immer mehr Menschen. In der Öffentlichkeit wird kaum diskutiert, inzwischen haben viele Angst, ihre Meinung zu sagen, warum eigentlich? Die Wähler glauben immer mehr, dass nur noch bei den politischen Parias, BSW und AfD, ein Wille zum Frieden erkennbar ist und machen ihr Kreuz dementsprechend. Damit gehen beide Parteien erste Schritte zur Volkspartei, SPD, Linke und eingeschränkt Grüne sollten nicht glauben, dass sie dauerhaft gegen die Mehrheit des linken Lagers Politik machen können. Gleiches gilt analog für die CDU. Der Krieg ist verloren und war nie zu gewinnen, ich hoffe, dass daraus die richtigen Schlüsse gezogen werden.

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