von Peter Löcke //
Nehmen Sie einen Stift und zeichnen Sie neun Punkte auf einen Zettel! Quadratisch angeordnet! Das schaffen Sie. Schließlich habe ich es auch geschafft, obwohl meine Zeichenkünste begrenzt sind. Siehe das oben gescannte Kunstwerk. Und nun verbinden Sie alle (!) Punkte mit vier Geraden ohne den Stift abzusetzen. An der eigentlichen Denksportaufgabe bin ich kläglich gescheitert. Ein Punkt blieb immer übrig. Es sei denn, ich setzte den Stift neu an.
Ein Trost war mir, dass erwachsene Bekannte ebenso an der Aufgabe verzweifelten. Wir bildeten regelrechte Denkfabriken, starrten auf das grafische Problem, machten theoretisches Brainstorming, versuchten uns an praktischen Zeichenlösungen. Am Ende gaben wir mit leerem Kopf auf. Im Ergebnis produzierten unsere kleinen Denkfabriken nur volle Papiermülleimer.
Vielleicht ist eine Denkfabrik, englisch Thinktank, generell zum Scheitern verurteilt. Der Terminus entstand während des zweiten Weltkriegs. In geschlossenen Räumen, an abhörsicheren Orten, sogenannten tanks, trafen sich damals Experten, um an Strategien und Lösungen für militärische Probleme zu arbeiten.
Die Aufgabe von Thinktanks hat sich achtzig Jahre später nicht wesentlich geändert. Formell betrachtet kann eine Denkfabrik vieles sein. Eine Stiftung, ein Verein, eine Gesellschaft, eine NGO. Es handelt sich um nichtgewählte Nichtregierungsorganisationen mit wachsendem politischem wie finanziellen Einfluss auf Regierungen. Oder ist es umgedreht? Haben die Regierungen wachsenden Einfluss auf die Denkfabriken? Meines Erachtens stimmen beide Erklärungen. Die Wissenschaftler in den Denkfabriken legitimieren gewollte politische Entscheidungen. Die Politik wiederum sorgt für die finanzielle Daseinsberechtigung und gesellschaftliche Anerkennung der Denkfabriken. Eine Hand wäscht die andere. Eine win-win-Situation.
Ob die vielen millionenschweren NATO-Thinktanks, ob die vielen Energiewende-Lobbyorganisationen wie die durch den Graichen-Skandal bekannte Agora Zeitenwende – diese Denkfabriken haben einen eingebauten Denkfehler. Sie wissen bereits um die Lösung. Sie suchen erst gar nicht nach einer anderen Lösung. All die Denkfabriken bleiben in ihrem Denkrahmen.
, Energiewende! Solar und Windkraft! So heißt die Lösung. Geforscht und gesucht wird lediglich nach Argumenten und Studien, diese Lösung der Öffentlichkeit glaubhaft verkaufen zu können.
Die Lösung heißt „Die Ukraine muss den Krieg gewinnen“. Präsentiert werden Experten aus NATO-Thinktanks, die begründen, warum diese Lösung alternativlos ist.
Es ist wie bei einer mathematischen Kurvendiskussion. Kennen Sie die noch aus Schulzeiten? Schwere Kost, ich weiß. Im Normalfall betrachtet der Schüler eine Gleichung wie etwa eine Funktion fünften Grades. Anschließend bestimmt er ergebnisoffen die Ableitungsfunktionen, die Nullstellen, die Extrem- und Wendepunkte auf der x- und y-Achse. Wenn man dann im Gegensatz zu mir mathematisches Talent besaß, konnte man die Lösung, den Graphen der Funktion, bestimmen und zeichnen. Wie? Indem man all die gefundenen Punkte zu einer Kurve verband. Connecting the points.
Denkfabriken denken wie bei einer umgedrehten Kurvendiskussion. Auch solche gibt es in der Mathematik. Hier steht die Lösung fest, hier steht die gezeichnete Kurve fest. In der Regel handelt es sich bei den Themen Corona, Klima, Krieg und Co um einen exponentiell steigenden Angstgraphen. Limes unendlich. Anschließend wird die eigentliche Aufgabe gesucht. Die Variablen und Argumente für die feststehende Lösung werden im Nachhinein modelliert. In einem geschlossenen Denkraum, einer Box. Von vermeintlichen Fachleuten aus Denkfabriken. Von „der“ Wissenschaft. Wer wagt es schon, diesen Denk-Experten als Nichtexperte zu widersprechen?
Auch bei Universitäten handelt es sich mittlerweile in vielerlei Hinsicht um geschlossene Denkfabriken. Der Student muss Denkpfade ausschließen, bevor er sich auf den Denkpfad begibt. Dem angehenden Akademiker wird vorgegeben, in welcher Sprache und mit welchen Worten er zu denken hat. Und vor welchen Menschen er sich zu distanzieren hat, um nicht in Kontaktschuld zu geraten. An dieser Stelle möchte ich erneut den Wirtschaftswissenschaftler Heiner Flassbeck aus dem Gedächtnis zu zitieren: „Die Studenten lernen Modelle auswendig. Nicht aber das eigene Denken.“ Zudem scheint in deutschen Universitäten das identische Problem zu existieren wie beim win-win-Doppelpass zwischen Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen. Der Staat lenkt, in welche Forschungsgebiete die Gelder fließen und in welche nicht.
Nun denn. Vielleicht sollte das Denken nicht fabriziert werden wie genormte Werkstücke in einer Fabrikhalle. Es braucht den Mut zum eigenen Denken sowie den Mut, den eigenen Denkrahmen zu verlassen. Letzteres ist gar nicht so einfach. Das war auch mein Problem, als ich die neun Punkte nicht mit vier Geraden verbinden konnte. Ich sah in den neun Punkten ein Quadrat und blieb beim Zeichnen der vier Geraden stets innerhalb des Quadrats. Warum eigentlich? Das war gar nicht die Vorgabe. So konnte es nicht funktionieren. Ein kleiner Nachbarsjunge hatte die Lösung. Der wusste intuitiv, dass man den quadratischen Denkrahmen sprengen musste. Out oft the box. Connecting the points! Siehe Kunstwerk.