von Bartender B. Stehle //
So wie man sich manchmal wundert, dass der Drink schon wieder leer ist, so wundert man sich zuweilen darüber, dass schon wieder ein Jahr vergangen ist. Ein weiteres Jahr, das einen in Kontinuität zu den vorangegangenen mit dem Gefühl zurücklässt, dass etwas aus den Fugen geraten ist. Solche Befunde sind schwer greifbar und bedürfen folglich einer Eingrenzung beziehungsweise Erläuterung.
Ohne Anspruch auf Vollständigkeit lassen sich auf der politischen Ebene mit Blick auf die internationalen Entwicklungen drei Themenkomplexe hervorheben, die von großer Bedeutung waren: die anhaltenden und weiter eskalierenden Konflikte im Nahen Osten sowie in Osteuropa; die Wahlniederlagen amtierender Parteien sowie die Regierungskrisen in großen, westlichen Demokratien; und schließlich das Voranschreiten einer multipolaren Ordnung. Diese Entwicklungen sind für sich genommen komplex und finden in ihrem jeweiligen Kontext statt. Zugleich sind sie auch miteinander verwoben. Die Tragweite und Taktung der Ereignisse sind frappierend und mitunter kaum noch einzuordnen, so dass sich bei uns so etwas wie eine emotionale Hornhaut gebildet hat, die eine Distanz zu den Dingen da draußen schafft.
Eine kurze Auflistung: das Narrativ vom Recht Israels auf Selbstverteidigung wird weitgehend aufrechterhalten, wenngleich sich diese Selbstverteidigung gegen die Hamas im Gaza-Streifen zu einem regionalen Konflikt entzündet hat, der keine Grenzen mehr zu kennen scheint. Zu diesem Narrativ lassen sich zwei Fragen stellen: Wer bezweifelt ernsthaft das Recht Israels, seine Bürger zu schützen? Sieht so Selbstverteidigung aus? Mit Benjamin Netanjahu und Joaw Gallant wurden erstmals Haftbefehle gegen westliche Amtsträger durch den Internationalen Strafgerichtshof erlassen. Der Vorwurf: Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Der Iran hat erstmals direkt vom eigenen Territorium aus Raketen auf Israel abgefeuert. Und man fragt sich: Wo soll das enden?
In Osteuropa bleibt das vorherrschende Narrativ ebenfalls bestehen: der Westen müsse den Ukrainern beistehen gegen den Aggressor Russland. Der Kontext des Konflikts sowie das enorme Leid, das dieser auf beiden Seiten verursacht, reichen nicht aus, um konstruktiv an einer Lösung zu arbeiten. Im Gegenteil, die Eskalation schreitet weiter voran und erstmals fliegen ballistische Raketen auf russisches Territorium. Russland wiederum feuert zum ersten Mal seine neue Waffe, die Oreshnik, auf die ukrainische Stadt Dnipro ab. Die Bilder erinnern an Szenen aus einem Science-Fiction-Film. Und man fragt sich: Wo soll das enden?
Das Jahr 2024 war geprägt von einer beispiellosen Serie von Wahlniederlagen regierender Parteien in den westlichen Demokratien. In Frankreich zerbrach die neue Regierung bereits nach kurzer Zeit. Michel Barnier kann auf die kürzeste Amtszeit in der jüngeren französischen Geschichte zurückblicken. In England kam es erst Mitte des Jahres zu einem Regierungswechsel, doch schon jetzt fordern Millionen von Briten via einer Petition Neuwahlen. Um den Zustand der US- amerikanischen Demokratie ist es ähnlich bestellt wie um die Scharfsinnigkeit des scheidenden US- Präsidenten. In Deutschland zerbricht eine ohnehin nicht funktionierende Regierung und man fragt sich besorgt, wie es weitergeht. Dieser polemische Rundumschlag soll lediglich verdeutlichen: Es läuft nicht wirklich rund in den westlichen Demokratien.
Im Oktober fand im russischen Kazan ein Gipfeltreffen der sogenannten BRICS-Staaten statt. Diese Gruppe vertieft ihre Zusammenarbeit kontinuierlich und immer mehr Staaten treten ihr bei. Im Jahr 2024 werden die BRICS-Staaten über ein höheres Bruttosozialprodukt verfügen als die G7-Staaten. [1] In den Gesprächsrunden diskutieren die Staatschefs erwachsen, sachlich und auf Augenhöhe. Dessen ungeachtet wird das Bündnis vom Westen oft verklärt, ignoriert oder belächelt. Damit offenbart er ein illusorisches Selbstbild und das Verkennen einer sich verändernden Welt. Wohin soll diese Selbsttäuschung führen?
Die eben genannten Aspekte sind lediglich kleine Teile einer beunruhigenden Bestandsaufnahme. Die Entscheidungsträger vieler westlicher Staaten verhalten sich wahnsinnig im Sinne von unvernünftig und leichtsinnig. Dieses Verhalten wird von politischen Sprechern und den großen Medienanstalten mit banalem, inhaltslosem Gerede begleitet. Oder es werden ideologisch geleitete Narrative präsentiert, die den jeweiligen Kontext völlig außer Acht lassen.
So wie man einen neuen Drink bestellen kann, wenn der alte leer ist, so kann man auch im neuen Jahr einfach so weitermachen – vorerst. Doch im Nachhinein werden solche Entscheidungen häufig bereut. Dann, wenn es zu spät ist.
Eine Antwort
Gut auf den Punkt gebracht. Ich frage mich, was steckt dahinter? Warum machen sogenannte „Politiker“ das und warum lassen wir, die Mitmenschen, das zu? Offensichtlich ist auf der politischen Bühne die Herrschaft des Rechts noch nicht eingekehrt. Das was in den letzten tausend Jahren im Privaten weitgehend erreicht wurde, dass Menschen anderen Menschen nicht ungestraft die Köpfe einschlagen, ist zwischen Staaten erlaubt. Man nennt es „Krieg“ und „Verteidigung“ und schon ist alles erlaubt. Sanktionen gibt es kaum. Wenn, dann dienen sie meistens dazu den politischen / ideologischen / religiösen Gegner zu brandmarken, sich selber aber von allen Vorwürfen rein zu waschen. Die UNO agiert mit gefesselten Händen, da die politisch-ideologisch-religiösen Strömungen/Parteien/Staaten sie im Sicherheitsrat, dem Forum der Weltmächte, kontrollieren und mit ihrem Veto jede Aktion unterbinden können. Was nützen hunderte von Resolutionen der Vollversammlung, wenn fünf Vetomächte und ihre Vasallenstaaten sich einen Dreck darum scheren können? Auch der EuGH wäre eine feine Sache, wenn er wirklich unabhängig wäre. Was also ist die Hoffnung? Sie besteht darin, dass die Herrschaft des Rechts sich auch in der Politik durchsetzt. Unerbittlich. Damit Verbrecher oder Paranoide sich nicht hinter dem Wort „Politik“ verstecken können, um ihre Machtgelüste auszuleben. Eine multipolare Welt ist sicher hilfreich dafür, weil eine dominante Supermacht immer dazu neigen wird, zu tun was sie für richtig hält, einfach weil sie es kann. Nur Countervailing Power kann da abhelfen. Auf die Einsicht der einzelnen Menschen und ihr Mitgefühl zu hoffen, ist dabei sinnlos. Menschen sind wie sie sind. Sie sehen jedem Völkermord gelangweilt zu. Nur die Herrschaft des Rechts kann daran etwas ändern. Und die Macht, dieses Recht auch durchzusetzen. Im Namen aller Völker der Welt.