von Bartender B. Stehle //
Wählen kann mühsam sein, weil eine Entscheidung getroffen werden muss. Wählen kann aber auch befreiend sein, da es die Freiheit der Wahl bedeutet. Wir treffen in unseren Leben unentwegt Entscheidungen, bewusst oder unbewusst, von großer Tragweite oder von geringer Relevanz, ob es uns gefällt oder nicht. Dieses vielschichtige Thema kann unter anderem durch eine biologische, neurologische, psychologische oder juristische Linse betrachtet werden. Aus gegebenem Anlass erscheint es an dieser Stelle sinnvoll, es aus gesellschaftspolitischer Sicht zu betrachten.
Eine Überlegung vorweg: Je nachdem, welche Art von Bar man besucht, erwarten einen ganz unterschiedliche Cocktailkarten. Wer eine preisgekrönte Bar besucht, wird wahrscheinlich eine ansprechende, durchdachte und kreative Karte vorfinden. In einer Eckkneipe hingegen erwarten einen die üblichen Verdächtigen, optisch dürftig dargeboten. Auf den jeweiligen Karten konkurrieren die Drinks um die Gunst des Gastes, indem sie ihre Zutaten nennen und zuweilen mit verlockenden Namen Emotionen wecken. Die Wahl des Etablissements beeinflusst das Niveau der weiteren Wahlmöglichkeiten. Bei politischen Wahlen ist eine solche Vorauswahl nicht möglich, es sei denn, es wird eine andere Staatsbürgerschaft angestrebt. Die jeweils vorherrschenden gesellschaftlichen Bedingungen bestimmen das Angebot. Umgekehrt kann man sagen, dass die Themen des Wahlkampfes sowie die Art und Weise, wie er geführt wird, auch etwas über den Zustand der Gesellschaft aussagen. Dies ist deshalb der Fall, weil die Parteien nicht stoisch ihre Standpunkte und Vorhaben verkünden, sondern sich so ausrichten, dass sie möglichst viele Stimmen auf sich vereinigen. Der Trend zum opportunistischen Wahlkampf wird durch die veränderte Mediennutzung, größere Datenmengen und ausgefeilte Algorithmen verstärkt.
Bei der Auswahl eines Drinks ist es üblicherweise möglich, direkt mit dem Bartender zu sprechen. Ein Cocktail kann modifiziert werden oder es besteht die Möglichkeit, einen Drink zu bestellen, der gar nicht auf der Karte steht. Diese direkte Form der Einflussnahme ist bei politischen Wahlen natürlich nicht möglich. Demokratische Prozesse im eigentlichen Sinne sind komplex und langwierig. Die Demokratien westlicher Prägung haben sich deshalb auf die repräsentative Form verständigt, wobei die Schweiz hierbei in gewisser Weise eine Ausnahme darstellt. Dies bedeutet, dass die Wahl einer entsprechenden Partei die einzige Möglichkeit ist, am demokratischen Prozess teilzunehmen. Die konkrete Arbeit wird dann von den Repräsentanten geleistet. Diesen Umstand hervorzuheben und zu würdigen ist deshalb so wichtig, weil es verdeutlicht, dass politische Wahlen und damit auch der Wahlkampf das Herzstück westlicher Demokratien sind.
Ein Gedankenexperiment: Historiker einer zukünftigen Hochkultur, vielleicht in 800 Jahren oder in 5000 Jahren, werden einmal unsere Zeit analysieren. Sie werden die politischen Systeme und die Rahmenbedingungen rekonstruieren. Vielleicht werden sie sich zunächst die Augen reiben und alternative Erklärungsansätze abwägen. Dann werden sie immer wieder zu der gleichen Frage zurückkehren: Ernsthaft? Es ist leicht, sich über das Niveau des derzeitigen US-Wahlkampfs lustig zu machen, der eine durchschnittliche Sitcom hochintellektuell erscheinen lässt. Aber was sagt das über unsere Zeit aus? Konflikte eskalieren, das dadurch verursachte Leid ist enorm und die Gefahr großer Kriege immanent; es gibt keine überzeugenden Antworten auf die ökologische Krise und kein Vertrauen in die Robustheit unseres Wirtschaftssystems; die Lebenszufriedenheit in den westlichen Gesellschaften ist überschaubar, was sich unter anderem in neuen psychischen Leiden ausdrückt. Kurzum: Unser gesamtes Lebensmodell scheint in Bedrängnis und programmatische Positionen wären angebracht. Vor diesem Hintergrund kann der amerikanische Wahlkampf nur als Farce bezeichnet werden. Er offenbart einen höchst infantilen Umgang mit der Situation, der mit Sicherheit nicht auf die USA beschränkt ist. Das soll keine Beleidigung sein. Die Folgen betreffen uns alle.
4 Antworten
Passend zur Lage unserer Nation und um beim Thema zu bleiben, fallen mir da folgende Cocktails ein: Zombie, Caribbean nightmare, Blow job, Alice Deluxe, Adios Motherf***er, Death in the Afternoon…um nur einige zu nennen.
Chapeau, Herr Zorn, Sie machen Ihrem Namen alle Ehre (nomen est omen?). Wobei Sie die Wucht der offensichtlichen Wut zwischen den Zeilen noch eloquent diplomatisch abmildern. Und ich bin da ganz bei Ihnen, deswegen resoniert es ja so schön. Irgendwie erinnern mich diese ganzen dissoziativen Störungen, die Sie so trefflich beschreiben, an die “Matrix Trilogie” (die mit den vier Teilen…). Gerade da finden sich einige Parallelen zu Ihrer Wahrnehmung. Die Wahl…welche Pille man schlucken will, zum Beispiel. Oder das System, das alle(s) und jede(n) kontrolliert und notfalls diszipliniert für den versuchten Blick hinter den Schleier. Oder die Namen…Neo, zum Beispiel…im Sinne von “alles NEU macht der Mai?” Oder Morpheus…und was im SCHLAF für Träume kommen mögen, wenn wir den Drang des Ird’schen abgeschüttelt, das zwingt uns stillzustehn (Hamlet 3. Aufzug, 1. Szene, der Monolog, Sie wissen schon…). Aber zurück zu Ihrer Wahrnehmung oder Ihrer Sicht der Dinge, da würde ich sogar behaupten, wer den Schleier lüftet, kann nicht normal BLEIBEN! Der Maia an’s Bein zu pinkeln bleibt nicht ohne Folgen. Zu groß ist die Verantwortung für normal Sterbliche, mit dem Wissen umzugehen, das sie hinter dem Vorhang erwartet. Dieser finale Schritt (nämlich der Erleuchtung) würde aus dem Homo sciens (DAS sind wir…) tatsächlich den Homo sapiens machen (DAS sind wir noch nicht…). Also ist es vielleicht keine schlechte Idee, dass nicht Hinz und Kunz den Schleier lüften dürfen, sondern nur wahre und demütige Adepten. “Schauen” zu dürfen ist eine Gnade, kein Verdienst. Möge Sie Ihnen zuteil werden, aber behalten Sie es für sich. Fackelträger sieht man nicht in dieser dunklen Zeit, am beinahe tiefsten Punkt der tiefsten Tiefe, aber man sieht das Licht ihrer Fackeln…per noctem ad lucem.
„Es irrt der Mensch so lang er strebt!“ Goethe. Damit wäre eigentlich schon alles gesagt. Der Rest sind Ausdeutungen dieses menschlichen Dilemmas. Menschen sind unvollkommene Wesen, die mit der Welt total überfordert sind. Einer Welt, die sie selber schaffen, die ihrem unvollständigen Sein entspricht. Um zu überleben und das bei einigermaßen geistiger Gesundheit, haben wir, die Spezies der „haarlosen Affen“ gelernt, unsere totalen Unzulänglichkeiten vor uns selbst und anderen zu verstecken. Das ist das Spiel, das wir alle spielen, um in der Gesellschaft der anderen Unvollkommenen zu überleben. Wäre es nicht so könnte etwas derart Hirnrissiges wie das amerikanische Wahlsystem nicht eine Sekunde überleben. Jeder sieht, dass der Kaiser nackt ist, doch wer das formuliert, verlässt den Konsens, menschlich Unzulängliches zu preisen. Wir drehen jeden Tag einen Spielfilm und halten ihn für unser Leben. Mein Name sei Gantenbein. Ich stelle mir vor … Die Tagesschau ist das tägliche Hochamt in dem die Welt „gemacht“ wird. So, dass sie für die Massenmenschen akzeptabel wird. Da wird zB verkündet: Das BSP ist im letzten Quartal um 0,1 % gewachsen. Einen größeren Witz kann man nicht machen! Und alle können das wissen. In den Quartalsberechnungen sind ca 50 % der Werte geschätzt! 0,1 % liegt innerhalb des Schätzfehlers! Die Vermessung der Welt! Mitarbeiter des WWF vermessen in der Südsee Schildkröten. Angeblich um ihr Überleben zu sichern! 10 kg Korallen werden einem Riff implantiert, um sein Dasein zu sichern! Die Verrechtlichung der Welt! Die deutsche Steuergesetzgebung macht mehr als die Hälfte aller entsprechenden Gesetze weltweit aus. Eine Flut von Gesetzen wird von Parlamenten erlassen, ohne dass der Normalbürger davon konkret erfährt. Das deutsche Sozialgesetzbuch umfasst 1200 Seiten. Gerechtigkeit im Diesseits schaffen. Verrückte Welt. Eine Welt der Verrückten? Aber Vorsicht! Wer den Schleier lüftet, ist nicht normal!
Herr Zorn, die Welt ist nicht verrückt, aber sie haben ja noch korrigiert in eine Welt der Verrückten. Wie verrückt diese sind, haben Sie auch angesprochen in der Steuergesetzgebung. Hier haben Sie mir eine Steilvorlage geliefert und mein Lieblingsthema angesprochen. Ganz bekloppt wird es wenn man die Definition der Steuer betrachtet. Ich beginne mit einer sehr kurzen Einleitung zum Begriff “Schuld”.
Wer Schaden anrichtet, schuldet Ersatz. Wer ein Auto kauft, schuldet den Kaufpreis. Wer Kinder in die Welt stellt, schuldet ihnen Sorge und Unterhalt. Etwas schulden tut man nicht einfach so, sondern mit Grund. Voraussetzungslos schuldet man nichts.
Nun haben aber findige Juristen aus der Fachdisziplin des sogenannten Verwaltungsrechts einen Begriff erfunden, der würdig ist, in die ewige Hitliste der Unwörter aufgenommen zu werden, nämlich „die voraussetzungslos geschuldete Abgabe“. Genauso definieren sie die vom Staat erhobene Steuer. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass sie – ja man lese richtig – voraussetzungslos geschuldet sei; also unabhängig davon, ob man einen Schaden angerichtet hat, ob man etwas gekauft oder in anderer Weise Verantwortung übernommen hat. Steuern schuldet man definitionsgemäß einfach so. Grundlos.
Der einzige „Grund“ zur Bezahlung der Steuer liegt also darin, dass man das Geld hat, um sie zu zahlen. Kein Wunder, hält sich die Begeisterung der Steuerzahler in immer engeren Grenzen. Mir kommt dabei jene hübsche Anekdote aus dem Schatzkästlein von Johann Peter Hebel in den Sinn, die so kompakt ist, dass sie sich ungekürzt zitieren lässt:
>>Als zu seiner Zeit ein fremder Fürst nach Frankreich reiste, wurde ihm unterwegs öd im Magen, und ließ sich in einem gemeinen Wirtshaus, wo sonst dergleichen Gäste nicht einkehren, drei gesottene Eier geben. Als er damit fertig war, fordert der Wirt dafür 300 Livres. Der Fürst fragte, ob denn hier die Eier so rar und selten seien. Der Wirt lächelte und sagte: „Nein, die Eier nicht, aber die Großen Herren, die so etwas dafür bezahlen können.“
Der Fürst lächelte auch und gab das Geld, und das war gut.
Als aber der damalige König von Frankreich von der Sache hörte (es wurde ihm als Spass erzählt), nahm er es sehr Übel, dass ein Wirt sich in seinem Reich so unterstand, solch unverschämte Überforderung zu machen, und sagte dem Fürsten: „Wenn Sie auf der Rückreise wieder an dem Wirtshaus vorbeifahren, werden Sie sehen, dass Gerechtigkeit in meinem Lande herrscht.“
Als der Fürst auf seiner Rückreise wieder an dem Wirtshaus vorbeifuhr, sah er kein Schild mehr dran, aber die Türen und Fenster waren zugemauert, und das war auch gut.<<
Das war weder Kaufpreis noch Schadenersatz, was der reiche Gast zu zahlen hatte, das war nichts anderes als eine voraussetzungslos geschuldete Abgabe. Nun sagt man zurecht, der französische König der da interveniert und den diebischen Wirt bestraft, sei grad der rechte; er, der wohl selbst keine Hemmungen kennt, voraussetzungslos geschuldete Abgaben zu vereinnahmen, und dies in tausendfach größerem Ausmaß als der kleine Ganove. Zurecht zwar legt er diesem das diebische Handwerk – Schade nur, dass er sich selbst die gleiche Unverfrorenheit in viel größerem Ausmass gönnt. Wasser predigen und Wein trinken.
Kommt einem das bekannt vor? Zurecht zwar interveniert unser Staat, wenn einer dem anderen einfach deswegen Geld stiehlt, weil dieser solches hat – Schade nur, dass er sich selbst die gleiche Unverfrorenheit in viel grösserem Ausmass gönnt, indem er nimmt, was er hat, Vermögen, Einkommen, Waren- und Dienstleistungsumsätze, einfach so – voraussetzungslos.