Die Geschichte des Verfalls

Was kommt nach der liberalen Demokratie?
von Kolja Zydatiss und Mark Feldon //

„Wenn das die beste aller Welten ist, wie mögen dann erst die anderen aussehen.“ Voltaire

»Echter Kommunismus wurde noch nie versucht.« Was heute als Spott über die Umsetzbarkeit linker Gesellschaftsmodelle daherkommt, war einst der ernstgemeinte Versuch, elaborierte Theorien nicht in den Dunstkreis ihrer tatsächlichen Folgen zu lassen. Mit einigem Erfolg, möchte man sagen, denn utopische Pläne dominieren den politischen Diskurs des Westens wie seit Langem nicht mehr.

Die von uns skizzierte Liberale Demokratie mit großem »L« hat es natürlich historisch ebenso wenig gegeben wie den »Verein freier Menschen«, die »Assoziation freier Produzenten« oder sonst eine Gesellschaft der »Freien und Gleichen«. Doch anders als die Utopien, die im 19. Jahrhundert erdacht wurden und wenige Jahrzehnte später blutig scheiterten, konnte sich die realexistierende liberale Demokratie als Gesellschaftsmodell präsentieren, das sich im Laufe von Jahrhunderten bewährte, sich stetig verbesserte und sich im Kampf der Systeme schließlich als vermeintlicher Endzweck der Geschichte, als Telos, offenbarte. Die Liberale Demokratie und nicht der Kommunismus galt in den postsowjetischen Jahren, nach einer weiteren berühmten Formulierung von Karl Marx, als das »aufgelöste Rätsel der Geschichte«.

Die realexistierende liberale Demokratie konnte sich durchaus in ihrer bloßen Form wiedererkennen. Das Leben in liberalen Staaten war zweifellos freier, gerechter, sicherer und wohlhabender als im Rest der Welt, und es gab gute Gründe anzunehmen, dass die bestehenden Diskrepanzen zwischen Idee und Realität immer weiter abnehmen würden. Nicht zuletzt die Klasse der Intellektuellen sollte mit ihrer oftmals schneidenden Kritik dazu beitragen, die Kluft zwischen Sein und Sollen zu überwinden. Noch die größte Empörung über Ungerechtigkeiten in den liberalen Nationen diente insofern nicht der »Überwindung« der liberalen Demokratie, sondern der inhärenten Kritik und der Annäherung an ihre Idee. Die zahlreichen Karrieren ehemaliger Linksradikaler in den kulturellen, sozialen und politischen Eliteinstitutionen bezeugen das überdeutlich.

Die Liberale Demokratie ist der Sinn ihrer realexistierenden Erscheinung. So wie die Sowjetunion nicht nur an minderwertigen Konsumgütern und einem unvernünftigen Wehretat zugrunde ging, sondern ebenso am Zynismus der Sowjetbürger (»Sie tun so, als würden sie uns bezahlen, und wir tun so, als würden wir arbeiten.«), so setzt der Bestand der liberalen Demokratie ebenso den Glauben in die eigenen Erzählungen voraus wie die Fähigkeit, ausreichend liberal denkende Bürger hervorzubringen – trotz der, in den Worten Arnold Gehlens, »Pluralität von Interessen, moralischen und wertorientierten Überzeugungen und der daraus sich ergebenden Unvermeidbarkeit machtgestützter politischer Auseinandersetzungen«.

Ob das gelingen wird, ist keine akademische, sondern eine höchst praktische Frage. Benötigt die liberale Demokratie ein normatives Fundament, eine »Leitkultur«? Kann sie in Zeiten abnehmenden Wohlstands bestehen? Setzt sie eine bestimmte liberale Mentalität voraus, die eine Bevölkerung durch einen langwieri- gen Prozess der »Psychogenese«, wie es der Soziologe Norbert Elias ausdrückte, erwirbt? Nähern wir uns dem Ideal der Liberalen Demokratie an, oder entfernen wir uns von ihm? Hat sie überhaupt eine Zukunft? Falls nicht, was könnte auf sie folgen? All das sind Fragen, die, so glauben wir, in Kürze beantwortet werden. Es dürfte den Leser kaum überraschen, dass wir zum Zeitpunkt der Niederschrift wenig Grund zum Optimismus sehen. Und mit dieser Sicht sind wir nicht allein. Ein paar rezente Beispiele: Ein »Exzellenzcluster« an der Freien Universität Berlin erforscht, ob das »liberale Skript« noch zu retten ist (wobei die Degradierung eines politischen Modells, das sich als Erbe der Aufklärung versteht, zum »Skript« die Antwort bereits preisgibt). 

Die Heinrich-Böll-Stiftung organisiert eine Konferenz mit dem Titel »Wettbewerb der Systeme: Zur globalen Krise liberaler Erzählungen«, die Jahreskonferenz des Forschungsinstituts Gesellschaftlicher Zusammenhalt treibt die Frage um, wie das Land durch die »epochale Krise« steuern wird und die Akademie für Politische Bildung Tutzing lädt zur Tagung »Demokratie auf dem Prüfstand« (kein Fragezeichen).

Nicht anders sieht es auf dem Buchmarkt und in den Medien aus. Zeitungsessays und Bücher sonder Zahl behandeln die Krise des Kapitalismus, der Repräsentation, der Demokratie, des Westens, mal im kulturpessimistischen Jargon (Alain des Benoist), mal als Weckruf (Timothy Snyder, Francis Fukuyama), mal als Abgesang (Houellebecq). Postliberale Autoren wie Patrick Deneen, David Goodhart, Rod Dreher oder Mary Harrington haben nicht nur einen wachsenden Einfluss auf amerikanische und britische konservative und rechte Parteien, Thinktanks und politisch-religiöse Gruppen, ihre Ideen werden auch in deutschen Redaktionen, Sozialen Medien und Kommentarspalten diskutiert. Man findet verwandte Gedanken auch in den Schriften des Medienwissenschaftlers Norbert Bolz, des Philosophen Alexander Grau, in den Büchern der Ethnologin Susanne Schröter oder des ehemaligen Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts Hans-Jürgen Papier, die das Vertrauen in Institutionen, den gesellschaftlichen Zusammenhalt oder den Rechtsstaat als fundamental bedroht sehen.

Auch zahlreiche empirische Untersuchungen legen den Schluss nahe, dass sich der Bogen des moralischen Universums nicht zur Gerechtigkeit, sondern zur Unordnung neigt. Laut einer aktuellen Forsa-Umfrage vertrauen nur noch rund 30 Prozent der Befragten dem Bundeskanzler und der Bundesregierung. Auch Bundestag, Bundespräsident und Bürgermeister verzeichnen im Vergleich zu 2022 Einbußen an Vertrauen von über 10 Prozent. Das Vertrauen in die Europäische Union (31 Prozent) und Parteien (17 Prozent) ist ebenfalls extrem gesunken. Eine weitere repräsentative Umfrage von Infratest kommt zum Ergebnis, dass das Vertrauen in den öffentlich-rechtlichen Rundfunk seit 2019 kontinuierlich abgenommen hat. 21 Prozent stimmen der Aussage zu, die Medien würden »mit der Politik Hand in Hand« arbeiten »um die Meinung der Bevölkerung zu manipulieren«. Laut einer Umfrage der Friedrich-Ebert-Stiftung vertraut nur noch eine Minderheit der Befragten (48,7 Prozent) der Demokratie, und dem Freiheitsindex 2022 des Allensbach-Instituts ist zu entnehmen, dass weniger als die Hälfte der Befragten (48 Prozent) findet, dass sie ihre Meinung frei äußern kann. Aus einer Allensbach-Untersuchung von 2020 erfährt man, dass für 25 Prozent der Hochschullehrer »Gendersprache« Pflicht und die »Leugnung des Klimawandels« verboten sein sollte. Eine Untersuchung der Otto-Brenner-Stiftung in Bezug auf die mediale Behandlung der Migrationskrise von 2015 kommt zum Schluss, dass »große Teile der Journalisten ihre Berufsrolle verkannt und die aufklärerische Funktion ihrer Medien vernachlässigt haben«. Zum Zeitpunkt der Niederschrift ist die einzige signifikante Partei mit dezidiert illiberalem Programm, die Alternative für Deutschland, zur zweitstärksten Partei Deutschlands aufgestiegen.

Schließlich gingen in die folgenden Zeilen auch die persönliche Erfahrung von uns Autoren, der Austausch mit Personen aus Politik, Kultur und sozialen Bereichen, Jahrzehnte des politischen Engagements in Gruppierungen, die mit fortschreitendem Alter immer weniger links wurden, die Lektüre von Büchern, Zeitschriften und Blogs kluger Zeitgenossen und endlose Debatten in Berliner Kneipen mit ein. Debatten über eine progressive Kulturrevolution, die sich durch moralische Erpressung, aggressive Rhetorik und Marketing-Psychologie die Institutionen des Westens Untertan macht.

Parawissenschaften wie antirassistische Mathematik und Medizin, postkoloniale Geschichte, queere Philosophie, feministische Geographie, antikapitalistische Klimawissenschaften, kritische Rechtswissenschaften (an dem Zusatz »critical« sollt ihr sie erkennen!) haben längst ihren Weg von den linken WG-Küchen und alternativen Kulturzentren in die Seminare der Eliteuniversitäten und von dort in die Ministerien, Behörden und Stiftungen gefunden. Die beschwichtigende Formel »Was an der Uni geschieht, bleibt an der Uni« war bereits falsch, als ein wohlmeinender Liberaler sie das erste Mal aussprach.

Was noch? Die Verelendung unserer Großstädte und der ehemals prosperierenden Industrieregionen. Die Massenmigration aus Ländern, in denen Säkularismus und Liberalismus als Sünde betrachtet werden, in denen man den Starken bewundert und Selbstkritik als Schwäche verachtet, in einen Sozialstaat, der ebenso beständig wächst wie der Mangel an Wohnraum, Kitas, Schulen und Krankenbetten. Worte wie »Assimilation« oder »Leitkultur« fallen seit Jahren nicht mehr, selbst Integration wird als bevormundend bis rassistisch diffamiert und der Westen gerät immer mehr in den Ruf, ein Synonym für die Herrschaft des alten, weißen Mannes zu sein.

Nicht zu vergessen die massiven Eingriffe in die Freiheitsrechte der Bürger zur Zeit der Pandemie. Die öffentliche Anprangerung von dissidenten Laien und Experten durch Medien, Wissenschaftler und Politiker, deren Verlautbarungen zur Unbedenklichkeit von Impfstoffen (Karl Lauterbach: »nebenwirkungsfrei«), zur Genese und Gefährlichkeit des Virus, zur Wirksamkeit von Lockdowns und sozialer Isolation sich teils als strittig, teils als falsch erwiesen haben, werden die an den Pranger Gestellten vermutlich so bald nicht vergessen. Sie haben einen Staat kennengelernt, dem der Bürger zum potenziellen »Krankheitsvektor« wurde und der soziale Missstände durch steuerfinanzierte Schenkungen zu mildern versuchte, während Kinder in die Depression stürzten und Eltern ihre Existenz verloren. Manchen war der »Ungeimpfte« mehr verhasst als das Virus.

Die vermeintlichen Experten folgen dabei einem Skript, das bereits Bundeskanzlerin Angela Merkel erfolgreich durch die Migrationskrise brachte – von »wir schaffen das!« zu »jetzt sind sie halt da« –, weshalb weder Aufarbeitung noch personelle Folgen zu erwarten sind. Zu diesem Skript gehört auch die Abwertung von Staatsbürgern zu Menschen-die-schon-länger-hier-leben, die aggressive Propagierung einer linken Queer-Ideologie – eines fahnenschwenkenden und dauerparadierenden »übertragenen Nationalismus« in den Worten George Orwells – durch Staat und internationale Unternehmen.

Dazu gehört weiterhin das wuchernde Geflecht von Nichtregierungsorganisationen, die durch Gefälligkeitsstudien und Kampagnen eine Kreislaufwirtschaft mit dem Staat bilden, der machtpolitische, steuerfinanzierte »Kampf gegen rechts«, der immer mehr zu einer Mobilmachung gegen alles Nicht-Linke mutiert, die Einrichtung von sogenannten »Meldeportalen« zur Denunziation von Abweichlern, und die an einen Polizeistaat gemahnende Ächtung von Kritik als »Delegitimierung des Staates«.

Schließlich beinhaltet das Skript die Implementierung des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes, das selbst Zensurforderungen aus China und dem Iran umsetzt, und die arrogante Zurechtweisung osteuropäischer Länder, während die absolutistisch agierende Kanzlerin per Machtwort eine demokratische Wahl annulliert. Das Ergebnis ist eine Republik, die nicht zur Ruhe kommt, der eine Wende (Energie, Verkehr, Heizung, Ernährung …) nach der nächsten verordnet wird, während die Bürger sich auf ein Leben des Mangels und der Unsicherheit in Vierteln, die ihnen fremd geworden sind, einstellen.

Wer möchte leugnen, dass die liberale Demokratie ein miserables Bild abgibt? Braucht es noch die von Walter Russell Mead beschriebene »Rückkehr der Geopolitik«, das Entstehen der anti- westlichen Achse Russland-China-Iran und den Export ihrer revanchistisch-imperialistischen,  totalitär-technokratischen  und radikalislamischen Weltanschauungen mittels Agenturen, die sich längst diesseits der sprichwörtlichen Tore befinden?

Während sich die Debatte um das mögliche Ende der liberalen Demokratie und den möglichen Beginn einer neuen Ordnung in Deutschland noch in ihrer akademischen und abstrakten Phase befindet, ist der Postliberalismus als Analyse, Kritik und politisches Programm in anderen Ländern längst praktisch geworden. Dies trifft vor allem auf Nationen zu, die auf die älteste liberale Tradition zurückblicken und in denen populistische Bewegungen politische Erfolge erzielten – etwa die Wahlsiege Donald Trumps und der niederländischen Bauern-Bürger-Bewegung, Brexit, Proteste gegen die Fragmentierung in Frankreich oder auch der Aufstieg rechtskonservativer und migrationskritischer Parteien in Schweden und Dänemark. Die Krise der liberalen Demokratien ist eine Krise des Westens. Kein Land bleibt verschont, nirgends ist eine Renaissance von Rechtsstaatlichkeit, Freiheit, Wohlstand und Sicherheit in Sicht. Wie man sich bettet, so liegt man.

Über die Autoren: Mark Feldon studierte Geographie an der Freien Universität Berlin. Neben seiner Arbeit in zivilgesellschaftlichen und sozialen Bereichen ist er auch als Lektor, Autor und Übersetzer tätig. Kolja Zydatiss studierte Psychologie, Neurowissenschaft und Statistik. Er ist gesellschaftspolitischer Sprecher des liberalen Debatteninstituts Freiblickinstitut.

Aus dem Buch INTERREGNUM mit freundlicher Genehmigung des Langen Muelller Verlag.

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3 Antworten

  1. Ich habe über viele politischen Absurditäten, wenn nicht gar Verbrechen gelesen. Ich weiß genug. Nur die Einzelheiten ändern sich, werden schlimmer. Ich denke an den Indianerjungen , der den Medizinmann fragt: Ich sehe immer wieder einen weißen (guten) Wolf und einen schwarzen (bösen). Sie kämpfen miteinander. Wer wird siegen? – Antwort: den du fütterst (gemeint mit deiner Aufmerksamkeit fütterst). Wir sollten das Lichte unterstützen. Und das ist keine esoterische Spinnerei. Jo Dispenza berichtet von einem Versuch. Es gab eine “Robotermaus”, also ein technisches Gerät mit Beinen, das sich zufallsgesteuert bewegte. Ein Computer zeichnete die Wege auf, die es in einem Käfig zurücklegte. Dann folgendes: Man weiß von Küken, dass sie geprägt sind auf das, was sie zuerst sehen. Das halten sie für ihre Mutter, also in der Regel die Henne. Man prägte Küken auf diese Robotermaus. Dann stellte man die Küken neben den Käfig mit der Robotermaus. Sie bewegte sich nun hauptsächlich am Rand des Käfigs bei den Küken und auch annsonsten nur noch in dieser Hälfte. Also hatten die Emotionen der Küken, die nach ihrer Mutter verlangten, die Robotermaus beeinflusst. – Wir sollten Gedankenhygiene betreiben.

  2. Neokolonialismus ist meine Definition und Wahrnehmung der heutigen Zeit.
    Neoimperialismus wird genauso passen. Beide sind zwanghaft verbunden.

    Auffallend ist das brutale und arrogante Umtauschen von Ethik – und Moral-Werte.
    Mehrere Jungen Generationen sind betroffen.
    Es ist ein gezielter und gesteuerter Prozess.
    Allein die neue Gender-Politik ist mit Zweck völlige Verwirrung und absolute Desorientierung, wohl nach Plan “auferstanden”, ergänzt durch tausendfache Kinder- und Jugendliche-Verstümmelung , mit Folge: geistige Vernebelung…
    Danach folgt zweifellos Chaos und Spannungen in jeder Form.
    “Lösungen” werden unterbreitet (mit neuen Vorschriften, Gesetzen und Maßnahmen)
    Diese beispiellose Vernichtung der kommenden Generationen ( Gender, Internet, als Sucht und ständiger Ablenkungsstörer der geistigen Entwicklung) ist für mich gezielte Zerstörung der Menschheit.
    Der neue Mensch ist schon quasi geplant und konstruiert. Er wird keine Demokratie brauchen.
    Steht in mehreren Büchern und Philosophische Theorien.
    Mainstream und Politiker sind das Instrument dafür.
    Sie dürfen keine einzige Minute Ruhe und Sorglosigkeit erlauben.
    Niemand darf Zeit und Nerven zum Nachdenken, Überlegen, Hinterfragen, Diskutieren haben.

    Jedermann soll in ständigen Stress und Angst leben.
    So wird ihm jede Demokratie total egal sein.

    Interessant und äußerst verdächtigt ist die Abwesenheit jeglicher massiver Protest…

    Würde mich maßlos glücklich schätzten, wenn meine Wahrnehmung und Eindrücke sich als Irrtum erweisen!!

  3. Demokratie für alle hat es nie gegeben, sie ist immer nur ein Angebot gewesen, so muss man auch heute dieses Angebot annehmen oder es eben ausschlagen.

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