Die Liga der Selbstdenker

Kommentar von Markus Langemann //

Große Veränderungen spürt man immer erst im Kleinen.

Manche spüren diese im kleinen Finger, andere im Mikro-Miteinander. Ich zähle mich zu beiden Gruppen.
Beim Kauf einer kleinen Sache in einem Drogeriemarkt – ich wollte meinen rechten Handschuh von Klebrigem befreien – blieb ich bei einem kleinen Dialog und später an meinen Gedanken kleben.

Die erstaunlich gut gelaunte Mitzwanzigerin hinter der Kasse, sie war ganz offensichtlich keine vom deutschen Griesgram geschüttelte Biodeutsche, deutete höflich-fröhlich auf die gegenüberliegende Packstation.

„Sie könne’ scanne’ und drüben zahle’ auch.“

„Nein danke, ich zahle die Einsneunundneunzig lieber hier, bei Ihnen. So weit wird es noch kommen, dass ich mich selbst abkassiere …“

Verunsichertes Grinsen über die ganze Breite der Dunkelhaarigen hinter dem laufenden Band. Gleich zwei Zehn-Wort-Sätze zwischen den Warentrennern und dem nächsten Scanner-Pieeeep scheint sie sehr selten zu hören.

„Ich zahle deswegen bei Ihnen an der Laufbandkasse, weil ich damit auch zur Erhaltung Ihres Arbeitsplatzes beitrage.

Vollends verstört schwebte nach diesem Satz eine Riesen-Comic-Wolke über ihrem Kopf. Darin sichtbar laternengroße Frage- und Ausrufezeichen in Comic Sans MS und ein „Hä?“

Verstanden hat sie meine freundliche, ihr zugewandte Einlassung offenbar nicht. Ob es daran lag, dass der Wortschatz bei ihrer Einbürgerung einfror oder weil unter ihrer Rossmann-Visibility-Clear-Cleansing-Concealer-Creme die Überforderungen im Leben generell abgedeckt werden, vermag ich nicht zu sagen.
In meiner Lebenswirklichkeit jedenfalls bin ich zunehmend entnervt davon, dass mich immer mehr Unternehmen zum „Working Client“ machen, mir die Auslagerung ihrer Services in mein Tagespensum des Tuns als Vorteil verkaufen wollen. Egal, ob deutsche Drogerie, schwedische Möbel, stöhnende Steuerkanzlei oder die Gastwirtschaft „Zum schlechten Service“, bei allen soll ich selber scannen, selber hochladen oder selber buchen. Online und allein.

Am Rande der stetigen Selbstoptimierung digitalisieren sich die Menschen ihre Arbeitsplätze gleich selbst mit weg. Unbedacht. Unwidersprochen. Glitzert ja alles so schön hier. Nur eben im Außen, an den Synapsen drinnen bleibt es finster, wie bei der Dunkelhaarigen.

Angefangen hat diese Unseligkeit der Selferei in den 70ern, mit Selbstbetanken.
„Wie herrlich war es da doch, wenn man als Frau elegant am Lenkrad wartet, bis der Tankwart wieder den Schlauch verräumt. Derweil die Durchsicht der Scheiben für die Weiterfahrt bereitet.“
So denkt die elegante Frau von heute, mit klugem Hang zum Gestern. Aber das ist eine andere Geschichte. Der gehen wir demnächst mal nach. Es gibt sie nämlich noch, die guten Dinge – zumindest in den Köpfen. Einige Frauen und Männer wagen diese auch schon auszusprechen. Noch in geschlossenen Benutzergruppen.

Zurück zur gepflegten Selbstvertrottelung.
In 2024 saß ich oft im Fond von Taxi oder Uber. In 9 von 10 Fahrten kannte ich mich besser in der Zielführung aus als Ibrahim hinter dem Lenkrad. Mein Fazit: Nimmt man den Typen vorne links ihr Google-Phone weg, wissen die nicht mal mehr, in welcher Stadt sie gerade Gas geben. In 5 von 10 Fahrten hab’ ich dem Uberisten gesagt, er soll mal beiseite rutschen, ich fahre seinen Toyota und mich lieber selbst.

„Geht sicherer, schneller und außerdem kenne ich den Weg zum Ziel.

In 10 von 10 dieser Angebote kam es nicht dazu. Hakim, der Weise, hat mich einfach nicht verstanden. So fuhr ich oft unverstanden mit und blickte hinten traurig aus dem Fenster. Dort sah ich immer selbstlenkende Menschen stillstehend vollelektrisch vorbeirollern. Zur Seuche der E-Scooter schreibt Ihnen der bartendernde Kolumnist Benjamin Stehle hier seine Sicht auf diese kleinen Dinger. Genießen Sie die Zeilen unbedingt.

Da ich Ihnen gerade über die Beobachtungen zum ausufernden Selbstbedienen schreibe und der Eindruck der Verallgemeinerung entstehen könnte, möchte ich dem hier gleich widersprechen. Selbstdenke unterstütze ich sehr, hiermit gar professionell. Ich beantrage demnächst, das „Selbstdenken“ als immaterielles Kulturgut von der UNESCO anerkennen zu lassen. Eventuell möchte ich auch die Population der in Deutschland lebenden Homo Sapiens, die noch selbst denken, im Sinne der Biodiversität auf die rote Liste setzen lassen. Artenschutz für Andersdenkende.

Man muss sie mit ihren eigenen Ideologien schlagen.

Selbstdenken ist nämlich erstaunlicherweise nicht mehr en vogue. Dieses Jahr zu Weihnachten wünsche ich mir deshalb, mehr Menschen hätten den Mut dazu. Selbst zu denken und auch selbstständig Schlüsse aus dem Selbsterdachten zu ziehen, statt Vorbedachtes von ARDZDFPHOENIXZEITFAZSPIEGELSZ zu übernehmen.

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6 Antworten

  1. ich werfe nach diesem erschöpfenden aber doch auch erheiternden Tage (Stichwort hirnlose Krapfen und eine Republik der beleidigten Leberwürste) zum krönenden Abschluss einen Goethe in die Waagschale:

    Feiger Gedanken bängliches Schwanken Johann Wolfgang von Goethe

    Feiger Gedanken

    Bängliches Schwanken,

    Weibisches Zagen,

    Ängstliches Klagen

    Wendet kein Elend,

    Macht dich nicht frei.


    Allen Gewalten

    Zum Trutz sich erhalten,

    Nimmer sich beugen,

    Kräftig sich zeigen,

    Rufet die Arme

    Der Götter herbei!


    Quelle: Goethe, Lila. Singspiel, 1777. 2. Aufzug, 2. Szene, Magus

  2. Lieber Herr Langemann, wenn’s Sie und Ihre herausragenden Kommentare nicht gäbe, würde sehr viel fehlen. Und dass Sie jetzt auch den Selbstdenker thematisieren, freut mich besonders, weil ich mich bestärkt fühle, meine Website gleichen Namens intensiv weiter zu pflegen. Vielen Dank Ihnen!

  3. Lieber Herr Langemann,

    vielen Dank für diesen wieder einmal tollen Kommentar, für den Sie auch etwas in die Kaffeekasse bekommen. Ich verfolge Sie auch schon seit der Duden dem Begriff „Querdenkern“ eine zweite Definition spendierte, welche stark an die dunkle Zeit unseres Rechtsstaates erinnert. Zum Glück gibt es im selben Nachschlagewerk keine Definition für „Selbstdenker“ Also bleibt Hoffnung, dass unsere „Liga der Selbstdenker“ noch nicht als Staatsfeinde gesehen werden.

  4. Danke für diesen wunderbar humorvollen, leider auch realitätsgetreuen Kommentar. Ich warte schon länger darauf, dass man mir im Supermarkt den Wischmop in die Hand drückt. Wenn schon …

  5. Lieber Herr Langemann,
    als nicht Selbstdenker erzogen zum Selbstdenker transformiert folge ich Ihnen seit geraumer Zeit. Um genau zu sagen seid Covid und dessen Narrativ. The Art of writing wie sie es beherrschen inspiriert mich. Noch mehr die Wahrheit die zwischen Ihren humorvollen Sätzen aus achtsamer Beobachtung durchscheint. Dank Covid durfte ich Sie auf diesem Weg kennen lernen. Maximalen Erfolg wünsche ich Ihnen weiterhin und verbeuge mich vor einem Mann der die Stirn den gehirnamputierten Massenmedien die Stirn zu bieten.
    Bleiben Sie gesund und von Herzen sende ich Grüße.
    PS: Ihren Newsletter erhalte ich dankend

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