Die Quittung für Merz

Kommentar von Peter Löcke//

Habemus cancellarium! Wir haben einen neuen Kanzler. Deutschlands neuer Brückenbauer heißt Friedrich Merz. Friedrich der Erste geht als erster Kanzler zweiter Wahl in die Geschichte der Bundesrepublik ein. Erlösender weißer Rauch stieg wider Erwarten erst um 16.15 Uhr auf, als die neue Bundestagspräsidentin Julia Klöckner das Ergebnis des zweiten Wahlgangs verkündete: 

„Mit Ja haben gestimmt 325 Abgeordnete.“ 

Das waren neun Stimmen über den Durst, das waren neun Stimmen mehr als die erforderliche Mehrheit von 316 Stimmen. Was sich in den gut sechs Stunden zuvor am Dienstag des 6. Mai 2025 im Berliner Reichstag abspielte, wird von politischen Beobachtern als demokratieschädigende Schmach, als historische Peinlichkeit, mindestens aber als überraschend, angesehen. War es wirklich so überraschend? Oder erhielt Merz und mit ihm die neue Regierung einfach nur die zu erwartende Quittung für eine Rechnung, die sie ohne den Wirt gemacht hat? Lassen wir den Tag Revue passieren. 

Die Stimmung in den frühen Morgenstunden war gelöst. Julia Klöckner begrüßte die Abgeordneten im Plenum in einem launigen Tonfall. Die Wahl von Friedrich Merz zum neuen Kanzler schien nur ein feierlicher, formeller Akt zu sein. Es brauchte schließlich nur die Stimmen aus den eigenen schwarz-roten Reihen und die schienen sicher. Dann der kollektive Schock nach der Bekanntgabe des ersten Wahlausgangs um 10.04 Uhr. Nur 310 Stimmen, das waren sechs zu wenig, das waren 18 vermutete Abweichler aus der Koalition, wenn man davon ausgeht, dass die Oppositionsparteien geschlossen gegen die neue Regierung stimmten. 

Ich war ebenfalls schockiert. Schockiert über den Schock. Ich war verwundert, dass niemand auf dieses Szenario vorbereitet war, denn es gab gute Gründe dafür, dass genau dieser Fall eintreten könnte.

  • Die rot-schwarze Mehrheit im Bundestag ist mit 328 zu 302 Stimmen dünn. Eventuelle Krankheitsausfälle werden bei der Kanzlerwahl nicht berücksichtigt. Klar war, dass 316 Stimmen benötigt wurden.
  • Die Kanzlerwahl gehört zu den wenigen Abstimmungen, die geheim stattfinden. Appelle hinsichtlich Parteidisziplin sowie die Androhung interner Konsequenzen nutzen wenig, wenn niemand weiß, welche Abgeordnete genau Wasser in den Wein gekippt haben.
  • Vor allem aus der CDU, aber auch aus SPD-Kreisen, gab es im Vorfeld kritische Stimmen, die sich unzufrieden mit dem ausgehandelten Koalitionsvertrag zeigten.
  • Historisch gesehen gab es fast immer regierungsinterne Gegenstimmen bei der Wahl zum neuen Bundeskanzler. Bei der Wahl Angela Merkels im Jahr 2005 waren es sogar 51 interne Abweichler, also weitaus mehr als bei der von Friedrich Merz. Der einzige Unterschied? Es spielte keine Rolle, weil die damalige Koalition ohnehin eine bequeme Mehrheit von 73 Prozent im Parlament hatte [1].

Das Scheitern von Friedrich Merz im ersten Wahlgang mag ein Novum gewesen sein, doch es sprach einiges dafür, dass genau dieser Fall eintreten könnte. Skandalös war etwas anderes. Skandalös war, dass niemand in Berlin auf dieses Szenario vorbereitet war, denn was sich anschließend abspielte, glich einem Trauerspiel. Die Metapher „Hühnerhaufen“ beschreibt dieses Trauerspiel nur unzureichend.

Was folgte, war ein hektisches Treiben auf den Gängen und in den Hinterzimmern. Gefühlt jede Minute ein neues Gerücht. Die Wahl wird auf Mittwoch, auf Freitag, auf einen Termin in drei Wochen verschoben. Nein! Doch! Oh! Den polit-journalistischen Louis de Funès aus Berlin wurde auf einmal klar, was eine solche Vertagung neben Gesichtsverlust im In- und Ausland rein praktisch bedeutet. Der Doch-Nicht-Kanzler sollte schon am nächsten Tag als offizieller Kanzler auf Europatournee gehen mit Premiere Macron in Paris. Die Köpfe rauchten bis die Justiziare der Parteien eine Lösung fanden. Von der Geschäftsordnung, der Eingabefristverzicht von eigentlich drei Tagen für eine zweite Wahl, musste abgewichen werden, um Merz noch am selben Tag zum Kanzler zu küren. Diese Änderung wiederum funktionierte nur mit der Zustimmung einer Zweidrittelmehrheit des Parlaments. Bei der AfD durfte man aus Brandmauer-Gründen nicht um Zustimmung anfragen, weil dadurch gesichert das vierte Reich ausbrechen könnte. Also vereinbarte die CDU trotz Unvereinbarkeitsbeschluss einen Deal mit den Linken. Und die Linken, die noch kurz zuvor Neuwahlen forderten, ließen sich auf den Deal ein. Was tut man nicht alles, um die Demokratie zu retten! Die Ironie der Geschichte? Am Ende erklären sich alle Parteien inklusive der AfD zu einem zweiten Wahlgang noch am selben Tag bereit, so dass sich die CDU den Gang nach Canossa auch hätte sparen können. Es hätte auch ohne Zustimmung der Linken einen zweiten Wahlgang gegeben. Nein! Doch! Oh! 

Der Rest ist Geschichte. Habemus Kanzler Merz im zweiten Versuch. Ob es nun SPD- oder CDU-Abgeordnete waren, ob gar Politiker der Grünen oder Linken durch Zugeständnisse doch noch für Merz stimmten, gehört ins Reich der Spekulation, denn die Wahlen waren geheim. Nun ja. Sie waren fast geheim, denn der aufgeregte Timon Dzenius von den Grünen postete ein Selfie seiner Stimmabgabe, was die Stimme ungültig machte. Der neuerdings auch als Food-Blogger bekannte Markus Selfie-Söder entdeckte im fernen Bayern den Historiker in sich und warnte vor Weimarer Verhältnissen wegen dieser blauen Partei, die nicht genannt werden darf.

Es waren die vielen skurrilen Nebenkriegsschauplätze, die den 6. Mai 2025 kurios erscheinen lassen. Es war vor allem die grenzenlose Naivität, dass niemand auf das Szenario eines Scheiterns im ersten Anlauf vorbereitet war. Und ja, es war auch ein Novum, eine persönliche Schmach und Quittung für Friedrich Merz.

Apropos Quittung und Rechnung. Vielleicht sollte man sich den Unterschied ins Gedächtnis rufen. Eine Rechnung dokumentiert eine Forderung, während eine Quittung den Erhalt einer Zahlung bestätigt. Der Wähler rechnete mit einem Politikwechsel, indem er mit der bestehenden Ampelpolitik in Neuwahlen abrechnete. Stand jetzt gibt es trotz vollmundiger Ankündigungen nur gebrochene Wahlversprechen statt eines Wechsels. Stand jetzt wurde eine alte Instabilität durch eine neue Instabilität ersetzt. Die amateurhaften Ereignisse am Dienstag des 6. Mai 2025 lassen nichts Gutes für die Zukunft erahnen.

Die neue Regierung muss aufpassen, dass sie die Rechnung nicht ohne den Wirt macht, denn das ist der Wähler. Der erwartet Wechsel und Leistung. Falls das nicht passiert, wird Friedrich Merz noch die eine oder andere Quittung für die erbrachte Nicht-Leistung erhalten.

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5 Antworten

  1. Dinge und Vorgänge stehen immer in Zusammenhängen und spiegeln etwas. Diese Betrachtungsweise scheint mir in unserer Welt oft bis stets zu kurz zu kommen. Sind diese andersdenken Koalitionäre lediglich egoistisch rachsüchtig oder versuchen sie damit eine Botschaft zu senden? Geht es nur um den Führungsstil von Merz, seinem Wortbruch oder seinem Umsturz der “Schandmauer”, oder ist es vielleicht auch hinsichtlich der geplanten Politik der Koalition? Sind es Protestler ähnlich denen im Volk, die nur noch die AfD als Druckmittel auf die ignorante Politik der letzten Bundesregierungen sehen, die letztlich aber zu größeren Teilen ebenso nicht unbedingt die AfD tatsächlich in einer Regierung sehen wollen wie die “Koalitions-Nein-Sager” Merz am Ende ja auch nicht scheitern lassen wollten?
    Es wird sowas schon mal erwähnt und “beredet”, aber ebenso schnell wieder vergessen und weitergemacht wie zuvor und genau das ist m. E. das wirkliche Problem. Niemand erkennt dies als ernsthaftes Zeichen oder nimmt es als solches. Die Ignoranz Andersdenkender führt uns letztlich in einen AfD Staat. Anstatt bald schon 1/3 der Wähler lediglich als Protestler oder schlimmer noch als Rechte, Nazis oder gar “Unterbelichtete” abzutun und nun gar die AfD mit freundlicher Unterstützung des BfV gleich als Partei verbieten zu lassen, wäre es nicht hilfreicher sich stattdessen einmal wirklich ernsthaft mit der Motivation dieser Wählerschaft und deren Probleme und Nöte auseinanderzusetzen, weil die Wählerschaft ja nicht verboten werden kann oder vielleicht doch?
    Die Pandemie Politik hat mir sehr deutlich gemacht, wie mit Andersdenkenden und Widerstand in unserer sog. Demokratie umgegangen werden kann, was mir sehr viel Angst machte und seit dem ich auch viel besser verstehe – weil erlebt -, wie das alles vor 92 Jahren möglich wurde, was heute vor 80 Jahren endete.
    Echte Demokratie heißt Auseinandersetzung, Kompromiss und Einigung und nicht ein alles überrollender Mainstream.

  2. Ernsthaft? Ein Kandidat verliert eine Wahl, ein Stuhlkreis wird gebildet und Zitat:”Die Abweichler” werden in 2 Stunden wieder auf Kurs gebracht. Eine zuvor wohl gut überlegte Gegenstimme(man hatte ja genug Zeit vor dem ersten Wahlgang), wird mit “wir brauchen jetzt eine stabile Regierung” in eine”nagut, wenn ihr meint”-Zustimmung geändert. Und der selbige Kandidat wird erneut, aber diesmal “richtig” gewählt.
    STABIL, wie ein Fähnchen im Wind

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