von Peter Löcke //
Eine gesunde Streitkultur ist die Basis einer jeden Demokratie. Der Diskurs, das Suchen nach Wahrheit und nicht das Verkünden von Wahrheit, ist das Wesen einer jeden Demokratie. Mit diesen Prinzipien bin ich groß geworden. These, Antithese, Synthese. So wurde mir es beigebracht. In der Schule musste man Erörterungen schreiben. Bei dieser Textform wird man aufgefordert, Pro & Contra-Argumente zu einem Streitthema zu sammeln, um nach Abwägung zu einer begründeten eigenen Meinung zu gelangen. Werden heute noch Erörterungen geschrieben? Oder müssen die Schüler anno 2024 bei politischen Themen zwei Spalten anfertigen? Links die Spalte der nicht zu hinterfragenden Wahrheit, rechts die Spalte der fake news und Leugner.
Wann genau haben wir das Streiten verlernt? Das muss weit vor Corona gewesen sein. Erinnern Sie sich an den Skandal um das tief zerrüttete Verhältnis zwischen dem Fußballtrainer Thomas Tuchel und seinem damaligen Vorgesetzten Aki Watzke? Das war 2017. Besagter Skandal wurde ausgelöst durch vier harmlose Worte. Als der Geschäftsführer des BVB in einem Interview gefragt wurde, ob es zwischen ihm und seinem Coach einen Dissens gäbe, antwortete er mit dem Eingeständnis „Ja. So ist es.“ Anschließend war die Hölle los. Ein Dissens ist eine Meinungsverschiedenheit. Nicht mehr und nicht weniger. Dieser Logik folgend besteht mein gesamtes soziales Leben aus tief zerrütteten Verhältnissen.
Warum streiten wir nicht mehr? Eben durfte ich lesen, dass wütende Bauern Robert Habeck daran hinderten, von der Fähre aus an Land zu gehen. Natürlich verbietet sich jedwede Spekulation. Dennoch: Unabhängig der mir unbekannten Hintergründe gibt es nun folgenden Reaktionsablauf, denn das Muster bei solchen Ereignissen ist gleich und wiederkehrend. Es folgt die Dreifaltigkeit des Moralismus. Sie besteht aus Betroffenheit (Anteilnahme für den Wirtschaftsminister), Empörung (Gefahr für die Demokratie) sowie der Forderung, sich zu distanzieren (adressiert an den Bauernverband). Dafür braucht es keine Glaskugel. Folgendes wird leider nicht passieren. Eine nüchterne Einordnung und Ursachenforschung der Geschehnisse sowie ein sachlicher Streit darüber, ob das Ereignis wirklich so skandalös war, wie es spontan erscheint. Die Frage „Cui bono?“ – wem nutzt dieser Vorfall politisch – diese wichtige Streitfrage wird nicht gestellt werden.
Darf man umstrittenen Personen eine Bühne bieten? Natürlich. Vor allem den streitbaren Personen sollte man eine Bühne bieten. Ich möchte Menschen zuhören, die politisch links oder rechts von mir stehen. Mich faszinieren umstrittene Menschen mit neuen, provokanten Ansichten und anschließend möchte ich mich mit ihnen streiten. Ich möchte nicht täglich den gleichen Brei von unterschiedlichen Tellern essen, sondern mein Menü wechseln.
Warum ist das Streiten so wertvoll? Meine eigene Meinung kenne ich. Monologe kann ich unter der Dusche halten. Nur im Streitgespräch mit einem Andersdenkenden erweitert sich mein Horizont. Das sprachliche Florett, das verbale Säbel, zur Not auch die Streitaxt – tritt man zum Duell an, sollte man sich in der Wahl der Waffen einig sein. Wenn der Sieg im Erkenntnisgewinn liegt, gewinnen beide. Dafür gibt es einen einfachen Trick. Man setzt vor einem Streit die Krone der menschlichen Eitelkeit ab. Ohne Krone bricht kein Zacken aus derselben, wenn der andere die besseren Argumente hat.
Warum stärkt das Streiten den Charakter? Ein analoger Streit von Angesicht zu Angesicht schult den Menschen. Dem Andersdenkenden die Meinung sagen, einen Standpunkt vertreten und dabei Widerspruch aushalten können – das sind Dinge, die wir in der digitalen Welt Stück für Stück verlernen. Online kann ich es mir leicht machen, indem ich mein Gegenüber mit einem Mausklick blockiere. Das funktioniert im wirklichen Leben nicht. Nur im analogen Streit lernt der Mensch, den Stress eines Konflikts auszuhalten und oh Wunder – man stirbt nicht daran.
Warum macht Streiten Spaß? Was sich liebt, das neckt sich. Versuchen Sie es mal wieder! Als Reaktion auf einen Streit am Vorabend hinterließ mir meine Frau einen kleinen Zettel. Dort stand drauf, dass ich ein elender Korinthenkacker sei. Zu Recht. Ich wies Sie freundlich daraufhin, dass man Korinthenkacker mit „h“ schreibt. Versteh mir einer die Frauen – das machte Sie erst richtig wütend. Der anschließende Streit endete darin, dass ich vorschlug, eine Runde mit dem Hund zu gehen. Das ist in der Regel ein untrügliches Zeichen dafür, dass mir die Argumente ausgehen und ich lieber das Weite suche. Als ich wiederkam, war alles wieder im Reinen. Ein Hoch auf die Streitkultur!
Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht in jedem Fall die Meinung des Herausgebers wieder.
Eine Antwort
“Beim Üben von Toleranz ist ein Feind der beste Lehrer” (Laotse)
Dieses Zitat habe ich aus dem Buch, das ich gerade lese. Also ein wirklicher Roman und kein “aufklärendes” Bühnenstück, um kurz zu Ihrem anderen Beitrag über Correctiv abzuschweifen:-)
Ich finde, es passt ganz gut zu dieser Kolumne. Ich hätte mir gewünscht, dass die Bauern mit ihrer Habeck-Blockade Erfolg gehabt hätten. Das war jedenfalls mein erster schmunzelnder Gedanke, als ich davon gehört habe.