von Bartender B. Stehle //
Ein Herr betrat die Bar und setzte sich beiläufig an den Tresen, so, als würde er immer an diesem
Platz sitzen. Der Abend war noch jung, die Bar weitgehend leer, und der Herr zum ersten Mal bei uns zu Gast. Sein Habitus und seine Zielstrebigkeit aber verrieten, dass er schon an vielen Tresen Platz genommen hat. Ebenso wie seine Bestellung, ein Martini-Cocktail, trocken, Gin als Basis.
Kein Blick in die Karte. Versierte Bar-Gänger eruieren gerne eine neue Bar, indem sie ihren Lieblings-Klassiker bestellen, ohne weitere Erklärung und dann abwarten, was passiert. Diesem Herren ging es allerdings nicht darum, gewisse Melancholie, gemischt mit einem ungläubigen Staunen. Ich erkundigte mich, ob er mit seinem Drink zufrieden sei, ohne der Intention, das Gespräch zu vertiefen. Sehr, antwortete er knapp. Er musterte mich aufmerksam. Ich rechnete mit einer der gängigen Fragen: welchen Wermut verwendet ihr oder zu welchen Teilen Gin zu Wermut mixt ihr euren Martini? Sein Ansinnen jedoch war von allgemeinerer Natur.
Er erkundigte sich, wie lange ich schon hinter dem Tresen stand. Gut zehn Jahre. Dann sei ich genau in den damals aufkommenden Gin-Hype hineingewachsen, merkte er an und schmunzelte.
Ich wurde neugierig. Er machte sich für einen Gutteil seiner Laufbahn für die Marke Gordon’s verdient, einen der weltweit größten Hersteller von Gin, durchlief dort zahlreiche Stationen,
erlangte einen Über- sowie Einblicke in das Europa-Geschäft. Gordon’s war der Standard. Überall. Es gehörte zu seiner normalen Lebenswelt, seine Marke vorzufinden, unabhängig davon, ob er eine American Bar gehobener Art betrat oder ein Restaurant. Weder hinterfragte er diesen Umstand noch nahm er ihn als außergewöhnlich wahr. Sein Blick schweifte durchs Fenster nach draußen.
Dann sah er mich wieder an. Der Wandel passierte zunächst schleichend, hier und da ein neues Produkt, mehr Mut bei kleineren Produzenten und Investoren, mehr Experimentierfreude bei den
Konsumenten. All diese Entwicklungen seien sichtbar gewesen, aber da die Geschäfte schon lange so liefen, wie sie eben liefen, konnte man diese ganz einfach ausblenden.
Das fein austarierte Verhältnis zwischen den einzelnen Akteuren, den Lieferanten, dem Vertrieb, den Abnehmern usw. dominierte die Lebenswelt und damit auch das Bewusstsein. Es führte auch zu einer sich selbst bestätigenden Gewissheit. Wer in etablierte Prozesse involviert ist, sieht die größeren Veränderungen um einen herum nicht. Oder genauer: Er erkennt deren Bedeutung weniger als jemand mit einer Außenperspektive.
Ein Unbehagen, ein subtiles Gefühl, dass etwas in der Luft liegt, wird im Alltag überlagert durch den fortdauernden Beweis der gelebten Realität. Als dann der Gin-Hype einsetzte und Gordon’s Gin aus den meisten Mixologen-Bars verschwand, seien sie selbst überrascht gewesen von der Geschwindigkeit der Veränderungen sowie deren Unumkehrbarkeit.
Nach einer erneuten Pause wechselte er das Thema, vermeintlich. Er sei erst kürzlich zurückgekehrt von einer ausgedehnten Reise. Besuch der Tochter, die in China arbeite. Und die Erfüllung eines alten Traums, Kenia und Südafrika zu bereisen. Lebhaft gehe es dort zu. Und Europa wirke klein, die hiesigen Debatten in der Außenperspektive abwegig.
Er frage sich, ob unsere Eliten, die, die hier in Verantwortung stehen oder zumindest formell diese Posten innehaben, merken, was gerade in der Welt vor sich geht. Welchen Blick man von außen auf Europa wirft und wie eklatant die Lücke zum eigenen Anspruch klafft. Welche Netzwerke gerade weltweit am Entstehen sind. Und was dies für uns bedeute.
Nach einem Drink zahlte der Herr, nickte mir insinuierend zu und verließ die Bar. Ich blieb zurück mit zwei Narrativen, deren Verknüpfung mich nachdenklich stimmte.
3 Responses
Sehr geehrter Herr Langemann ,
ich lese nur einen Teil Ihre wunderbaren mail´s .Bin 73 Jahre und würde mir wünschen ,daß Ihre Schrift weiß und der Untergrund schwarz ist!
Es ist besser für unsere Augen –
Mit schönen Grüßen aus Dresden G.Leideck
Den Wendepunkt, ab dem wir als Westen international endgültig unmöglich geworden sind, ist der Gazakrieg. Unsere rückhaltlose Unterstützung Israels hat unsere Staaten zu Mittätern gemacht. Wir mißachten den Internationalen Gerichtshof in Den Haag, der Haftbefehle für Hamas Führer und u.a. für den israelischen Präsidenten ausgestellt hat. Nethanjahu lassen wir weiter lustig durch die Welt fliegen. Wann haben denn diese ganzen Messerattacken so richtig angefangen? Wir merken jetzt, wir sind im Krieg, inzwischen im zweiten zur gleichen Zeit. Dieses Mal findet der Krieg bei uns statt, nicht sonst wo. Wenn eine ansonsten bäuerliche Stammesgesellschaft im Jemen mit modernen Flugkörpern den Schiffsverkehr im Suezkanal zum Erliegen bringen und sogar Israel direkt aus der Ferne angreifen kann, dann ist zweifelhaft, ob der Westen die Konflikte um Israel militärisch lösen kann – bisher hat man nur ein paar Bombenangriffe geflogen. Abgesehen vom militärischen Dingen, auch wirtschaftlich, kulturell und politisch sind wir Mittelmaß. Die UNO untersucht, ob unsere eigene deutsche Rechtsstaatlichkeit verloren gegangen ist. So weit haben wir uns schon delegitimiert – die freie EU will mal eben X verbieten und läßt den Macher von Telegram verhaften. Das sieht aus globaler Perspektive nicht gut aus. Lit.: Peter Scholl-Latour: „Russland im Zangengriff“ und „Die Angst des weißen Mannes. Ein Abgesang“
Touché. Ich denke viele der hier lebenden Politiker haben keine Erfahrungen im Ausland gemacht. Damit meine ich nicht Staatsbesuche. Das ist wie Trockenschwimmen. Nein, andere Länder und Kontinente besucht als Geschäftsleute oder mindestens Touristen. Deren Denkweise erfahren, deren Habitus erkundet. Ein Urteil gefällt. Wer in den USA den Habitus einer ewigen Weltfirma wie GILLETTE erlebt hat, wie die die Welt aus ihrer Perspektive sehen, oder in Kuala Lumpur erlebt hat, dass es kaum Notizen zur hiesigen Politik in den Zeitungen gibt, noch nicht mal die deutschen Börsenkurse, ja der weiß darum, dass Europa halt nur einer von fünf Kontinenten ist. Dass es für die aufstrebenden Asiaten zwar eine Rolle spielt wer in den USA Politik macht, aber nicht wer in Deutschland regiert. Er realisiert nicht, dass GORDONS nicht nur langsam Marktanteile verliert, sondern über Nacht unmodern wird. Das schlimmste was einer Marke passieren kann. Die USA sind wie GORDONS. Die EU könnte Marktanteile übernehmen. Sie könnte modern werden. Aber nur als unabhängige und freiheitliche Föderation. Nicht als Ableger von GORDONS und kleinliche Superbürokratie, die sich um Flaschenverschlüsse kümmert. Gerührt oder geschüttelt?