von Bartender B. Stehle //
Die Gäste sind weg, und mit ihnen ist die Hektik aus dem Raum entwichen. Bars sind nach Ladenschluss, wenn alles in Ordnung gebracht ist, sehr ruhige und, wenngleich kaum vorstellbar, besinnliche Orte. Zuweilen finden sich hier gute Momente, seine inneren Dialoge mit etwas Distanz zu betrachten, da man sich zuvor auf vielen Ebenen verausgabt hat. Die Ereignisse von Solingen und ihre Folgen wirken nach.
Zwei Stoßrichtungen scheinen, grob vereinfacht, sichtbar zu sein. Im Kern geht es um die Migrationspolitik. Dieser Begriff ist inzwischen sehr aufgeladen. Um im polemischen Duktus zu bleiben: die naiven Gutmenschen stehen den Rechts-Gesinnten, den Leugnern, Ewig-Gestrigen mit faschistoiden Denkweisen gegenüber. Bestimmte Zitate haben sich zu Schlüsselzitaten entwickelt und bringen die jeweils andere Seite in Rage. Gleichzeitig haben wir uns daran gewöhnt, dass sich unsere Politiker wie Fähnchen im Wind verhalten, den wiederum die „Mainstream-Medien“ zu einem Gutteil produzieren. Dies ist so normal geworden, dass es gar nicht mehr auffällt. Die negativen Emotionen der jeweils anderen Seite gegenüber nehmen stetig zu. Folglich hier der Versuch, die Emotionen herauszunehmen. Sie sind nicht der beste Ratgeber und zuweilen sehr manipulierbar.
Zu Europas Selbstbild seit dem Zweiten Weltkrieg gehört, dass wir humanitäre Belange sehr ernst nehmen und für die Einhaltung der Menschenrechte weltweit eintreten. Theoretisch. Wer diese Maxime hochhält, steht auf der richtigen Seite. Dieser schöne Wunsch führte unter anderem dazu, dass wir im öffentlichen Diskurs bestimmte Prozesse, die sehr kompliziert sind, durch eine rosarote Brille betrachtet haben. Der Umgang mit Flüchtlingen ist hierfür ein Paradebeispiel. Wie gut fühlte es sich an, als Flüchtlinge 2016 am Münchner Hauptbahnhof unter Beifall wie Stars empfangen wurden? Wie gut fühlten wir uns dabei? Ein Happening – sowohl medial als auch sozial-medial.
Wir benötigen eine kontrollierte Zuwanderung. Sowohl im Bereich der Fachkräfte als auch im Bereich der Aushilfskräfte. Das ist die eine Seite. Unsere Perspektive. Auf der anderen Seite begeben sich sehr viele Menschen aus Verzweiflung auf die Flucht nach Europa. Sie fliehen vor Kriegen und aussichtslosen Lebenssituationen, nur selten vor Naturkatastrophen. Eine unkontrollierte Zuwanderung bedroht den Zusammenhalt unserer Gesellschaften und unsere Sicherheit. Ohne hier in den Bereich der Statistik eintauchen zu wollen: Nicht wenige von jenen, die hierher geflohen sind, vertreten völlig andere Werte als wir und lehnen unsere Kultur ab. Auch begehen nicht wenige von ihnen schlimme Verbrechen. Ein Verleugnen dieses Problems sowie das Nichtanwenden unserer rechtsstaatlichen Mittel werden nicht zur Lösung beitragen.
Weiten wir an dieser Stelle die Perspektive und integrieren die historische Sichtweise. 1979 begann in Afghanistan ein Stellvertreterkrieg zwischen der Sowjetunion und den USA. Seither finden in dem Land Interventionen statt, militärische Gruppen werden ausgerüstet und von außen gesteuert, wilde Koalitionen greifen das Land an und gehen nach 20 Jahren wieder, unverrichteter Dinge. Aus Sicht der einfachen Menschen waren diese 40 Jahre eine Katastrophe und brachten viel Leid. 2003 wurde der Irak angegriffen, wobei heute unbestritten ist, dass die Gründe für diesen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg erfunden waren. Viele Hunderttausende Zivilisten verloren ihr Leben. Bereits 2015 schrieb das Bundeswehr-Journal: „Die Gesamtzahl der Todesopfer der Kriege und Kriegshandlungen im Irak, in Afghanistan und in Pakistan wird von der Öffentlichkeit erheblich unterschätzt.“ [1] Ein Blick auf die Grenzen und Amtssprachen in Afrika sowie in Zentral- und Südamerika verrät, dass diese Staaten nicht organisch gewachsen sind. Die Errichtung fand zu deren Ungunsten statt, um es vorsichtig zu sagen. Dies sind lediglich kleine Schlaglichter, die einen Blick darauf ermöglichen sollen, dass unsere Dominanz nicht nur durch Fleiß und Erfindungsreichtum erreicht wurde, sondern dass wir via imperialistischer Politiken verschiedener Couleur aktiv an der Misere der Anderen beteiligt sind. Wenngleich dies alles bekannt ist, scheint es befremdlich vergolten. Frappierend dabei ist, dass ein aktueller Blick von Venezuela über den afrikanischen Kontinent bis nach Osteuropa sowie den Nahen Osten verrät, dass es sich bei geopolitischen Einflussnahmen, um einen neutralen Begriff zu verwenden, keineswegs nur um historische Begebenheiten handelt.
Daraus folgt natürlich nicht, dass wir es hinnehmen müssen, dass hier Straftaten begangen werden oder sich Parallelgesellschaften bilden. Dies soll kein Plädoyer für eine Selbstgeißelung oder eine Politik der blinden Toleranz sein. Eher ein Verweis darauf, dass die Lage ziemlich kompliziert ist. Dass ein historisches Bewusstsein und damit einhergehend eine empathische Haltung gegenüber dem Leid der Anderen uns selbst davor bewahren kann, unmenschliche Haltungen einzunehmen. Dass wir dazu aufgefordert sind, unsere berechtigte Wut nicht unreflektiert zu kanalisieren.
Die Versuchung, sich in derlei Momenten einem politischen Aktionismus hinzugeben, ist groß. Ebenso die Gefahr, hierbei zu einem sehr unschönen Wesen zu werden.
Dies zeigt sich bereits darin, dass die ersten Abschiebungen nun wieder medial inszeniert und politisch ausgeschlachtet wurden. Vor dem Hintergrund der tragischen Lage ist dies als traurig bis erbärmlich zu bezeichnen. Es wäre wünschenswert, dass unsere Politiker Demut zeigen. Nicht als Individuen, sondern als die Repräsentanten, die sie sich entschieden haben zu sein. Demut der eigenen Bevölkerung gegenüber für eine unehrliche Politik. Und Demut den Menschen gegenüber, die unter der geopolitischen sowie wirtschaftlichen Interessenpolitik westlicher Länder zu leiden haben. Seine Grenzen auf eine gesunde Art zu schützen, erfordert auf gesellschaftlicher ebenso wie auf individueller Ebene Reife und Selbstreflexion. Wie wenig wir hiervon besitzen, verdeutlicht sich auch in dem Umstand, dass die hier dargelegte Forderung, die historische Verantwortung mitzudenken, eher wie eine Polemik wirkt als wie eine Selbstverständlichkeit.
In der westlichen Hemisphäre treten Kriegsverbrecher als gefragte Redner auf, wie der ehemalige britische Premier, um nur einen zu nennen. Viele Akteure, die mit ihren rücksichtslosen Politiken weltweit viel Leid verursacht haben und weiterhin verursachen, gehören hier zum Establishment. Ohne die Taten in irgendeiner Form zu rechtfertigen, sollten wir uns in der jetzigen Situation die Mühe machen, das Gesamtbild nicht aus den Augen zu verlieren und möglichst differenziert zu bleiben.
3 Responses
Sorry, es muss natürlich heißen ,,, Immanuel Wallerstein hat in der „Barbarei der Anderen“,,,
Wenn wir im Westen uns ehrlich machen würden, verlören wir unsere Selbstachtung. Deshalb ist bei den Meisten an diese Stelle ein Schwarzes Loch der Erkenntnisverweigerung und des Beschweigens getreten. Diese Stelle ist die neoimperiale, neoliberale Politik der wirtschaftlichen Ausbeutung und politischen Unterwerfung von Staaten der sog. zweiten und dritten Welt. An dieser Erkenntnis führt kein Weg vorbei. Die Erkenntnis wird verhindert durch eine Vielzahl von falschen und grotesken Narrativen. Während der Westen früher den „Glauben“ brachte, bringt er heute die „Demokratie“ und die „Menschenrechte“. Abgeschmackter geht’s nimmer, oder? . Wittgenstein hat in „Die Barbarei der Anderen“ das Thema umfassend beleuchtet. Václav Havel auch in „Versuch in der Wahrheit zu leben“. Was tun? Diese Länder der zweiten und dritten Welt sind dabei ihre Ketten abzustreifen und ihre Interessen zu vertreten. Sie sprengen die Unipolare Weltherrschaft des Westens und etablieren eine gerechtere Weltordnung. Das wird natürlich kein Spaziergang. Es wird ein Jahrhundert dauern und blutige Opfer fordern. Wie immer.
Ein sehr guter Beitrag. In dieser mehr als wirren Zeit wird immer wieder auf den ” brutalen ” Angriffskrieg in der Ukraine hingewiesen, das in Israel Krankenhäuser und Flüchtlingscamps bombardiert werden, wird als Glaubenskrieg deklariert, welch Demagogie. Die Berichterstattung wird immer gemäß der politischen Elite gehandhabt. Unsere Politikdarsteller unterlassen nichts, um Deutschland und Europa in einen Krieg zu treiben. Das Volk sollte sich endlich seiner Kraft bewusst werden und für eine friedliche Welt aufstehen.