von Antje Maly-Samiralow //
Gerade komme ich aus einer Matinee. Es war ein Sonntagskonzert, das eines Sonntages würdig ist. Es spielte das Kammerorchester des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks in einem der schönsten Theater des Landes, dem Münchner Prinzregententheater. Auf dem Programm standen Slawische Klassiker: Chopin, Tschaikowsky und ein Komponist, von dem ich heute zum ersten Mal gehört habe – zumindest bewusst: Wojciech Kilar.
Radoslaw Szulc, künstlerischer Leiter des Kammerorchesters und Landsmann des Komponisten, kündigte ihn in etwa so an: „Wojciech Kilar zählt zu den großen polnischen Komponisten. Zu Weltruhm verhalfen ihm vor allem seine Filmmusiken, die er unter anderem für Francis Ford Coppola oder Roman Polański schrieb…“
Wie er das anstehende sinfonische Werk Kilars beschrieb, wurde mir warm ums Herz, obwohl noch kein Ton erklungen war. Die melodisch beschriebene Szenerie ward im Tatra Gebirge verortet, die Bewegung entsprang dem Fluss Orawa, der der Musik Bild, Stimme und Namen verlieh. Wer je die Weiten dieser Landschaft erkundet und sich darin verloren hat, vermag nachzuempfinden, was des Künstlers Initial gewesen sein mag, als er diese Tonfolgen ersann. Ich war vom ersten Takt an beseelt und blieb es bis zum Verklingen der letzten gespielten Note. Die Musik sprach von einer Liebe zu dieser Landschaft, von einer Heimat- und Erdverbundenheit. Es braucht keinen großen Musikverstand, um auf Smetana zu verfallen, der mit ähnlich liebevoller Hingabe die Moldau vertont hat. Beim Zuhören und in mich Hineinnicken konnte ich mich des Gedankens nicht erwehren, dass dieser Wojciech Kilar ein tiefgläubiger, ein spiritueller Mann gewesen sein muss. So etwas, dachte ich mir, kann man nur hervorbringen, wenn man in einer Verbindung zur Welt steht und um eine höhere Ordnung weiß. Als ich später im Programmheft las, dass er von der göttlichen Inspiration als Urquell der Musik überzeugt gewesen sei, in tiefer Beziehung zur Natur gestanden und sich den in den Karpaten beheimateten Menschen, ihren Riten und Bräuchen verbunden gefühlt habe, da habe ich mich gefreut wie ein kleines Kind. Es ist eine Gnade, Kunst zu erschaffen, die für sich steht, die keiner Worte, die keiner Zuschreibungen bedarf. Und die Demut, die Wojciech Kilar zugrunde gelegen haben muss, ist eine Gnade, der immer weniger Menschen teilhaftig werden. Mein alter Gesangslehrer hat mir in einem stillen Moment folgenden Satz ins Stammbuch geschrieben: „Zuerst muss man sich mal das Prädikat Mensch verdienen. Dann kann man sich von mir aus auch Künstler nennen.“
So und nun blättern wir zwei Tage zurück. Freitagabend war ich mit meinem Mann in einem Konzert der Reihe musica viva des Bayerischen Rundfunks im Herkulessaal der Münchner Residenz. Mein letzter Konzertbesuch lag schon ein wenig zurück und die Erinnerungen daran waren bereits verblasst. Mir war durchaus bewusst, dass das keine leichte Kost sein würde. Ich habe nichts gegen neue Eindrücke, auch auf die Gefahr hin, dass die Eindrücke verstören. Kunst darf das. Sie darf auch weh tun, gelegentlich, so wie die Filme von David Lynch verstören oder die Bilder von Otto Dix und Egon Schiele. Und dann war da diese Beschreibung eines Stückes mit dem verheißungsvollen Titel Morning in Long Island, die mich neugierig gemacht hat. Der französische Komponist Pascal Dusapin soll bei einem Aufenthalt auf Long Island dazu inspiriert worden sein, so konnte man es dem Programmheft entnehmen:
„… Wie so oft bei Dusapin handelt es sich um ein bereits lang gehegtes Projekt. Eines Tages im Oktober 1988, so erzählt er, sei er »auf eine sehr unwahrscheinliche Weise« mit dem Schriftsteller Olivier Cadiot, dem Librettisten seiner ersten Oper Roméo et Juliette, »in einem Haus auf Long Island« gelandet. »Es war sehr kalt und feucht, so dass man unmöglich Schlaf finden konnte. Frühmorgens ging ich zum Strand. Es war so schön. Ich erinnere mich an dieses fremdartige Licht, das den Himmel einhüllte, an die Klänge des heranbrechenden Meers, an die Vogelschwärme, die in Kreisen zu schweben schienen, an den salzigen Geruch des Sands und die immensen, gestrandeten Pflanzen, wie Lianen, die in wilden Tänzen [›Farandoles‹ im Original] rascheln. Herbeigetragen vom Wind, der sich in alle Richtungen drehte, hörte ich eine ferne Tanzmusik – wie die Fetzen einer frühen Erinnerung. Ich ging während Stunden weiter. Wieder im Haus schilderte ich dem (halberfrorenen) Olivier meine Emotionen, worauf er sagte: ›Eines Tages wirst du ein Stück mit dem Titel Morning in Long Island schreiben müssen …‹.“
Das hatte genügt, um mich für die Veranstaltung zu gewinnen. Der Abend begann mit einer Komposition der Australierin Liza Lim, die am selben Tag in der Bayerischen Akademie der Schönen Künste mit dem HappyNewEars-Preis ausgezeichnet wurde. Als es losging, war ich noch voller Enthusiasmus und geneigt, die ziemlich schrillen Töne mit Wohlwollen hinzunehmen und mich auf sie einzulassen. Ich schloss die Augen und hatte ganz schnell das Gefühl, dass mir jemand mit der Kettensäge zu Leibe rücken wollte. Mein Mann, den ich zu diesem Abend überredet und es ihm ein wenig zu schmackhaft gemacht hatte, kommentierte unumwunden: „So klingt es, wenn im Film die Zombies anrücken.“ Mein Sitznachbar auf der anderen Seite, der sich als Komponist von Kammermusik ausgegeben hatte, kommentierte: „So etwas nennen wir serielles Geplauder.“
Als das Stück vorbei war, regnete es großen Applaus. Der Mann links von mir applaudierte nicht. Mein Mann auch nicht. Da stellte auch ich das Klatschen ein.
Kurze Pause, nächstes Stück: Die Uraufführung einer von der musica viva beauftragten Komposition für Orchester und Akkordeon. Kurzfassung: Ich hatte wenig bis kein Schmerzempfinden und versuchte eine Struktur herauszuhören. Irgendwo glaubte ich Bienen- oder andere Insektenschwärme zu vernehmen. Der Akkordeonist rang seinem Instrument Geräusche ab, die ich dem (Instrument) nicht zugetraut hätte. Da kamen Klänge zustande, die überraschten. Recht viel mehr mag ich dazu nicht sagen. Der Applaus war noch ein wenig überschwänglicher als der vorhergehende. Dieses Mal klatschte auch der Mann links von mir. Mein Mann schüttelte hingegen den Kopf. Da hatte ich ihm doch ein bisschen viel zugemutet.
Aber jetzt war ja auch erstmal Pause und ich bot mich an, ihm ein Getränk zu organisieren. Wie ich da stand in der Schlange, sprach mich eine Frau an und konstatierte: „Toll nicht?“ „Na ja“, sagte ich, „eher gewöhnungsbedürftig.“ Daraufhin bemühte sie sich, korrigierend einzugreifen: „Das ist halt keine seichte Kost.“ Daraufhin schaute ich sie ostentativ eindringlich an und präzisierte: „Sie finden also Bach, Dvořák und Rachmaninov seicht?“ „Nein“, beeilte sie sich, zu retten, was zu retten war, „die natürlich nicht.“ Dann war ich auch schon an der Reihe und bestellte Alkohol. Nachdem sich dieses Gespräch in fast ähnlichem Wortlaut kurz darauf noch einmal ereignet hat und ich im weiteren Verlauf der Pause noch viele Ohhh’s und Ahhh’s und ähnlich klingende Lobhudeleien vernommen habe, kam mir die Szene aus dem Monaco Franze in Erinnerung, wie er und seine Frau in bester Gesellschaft einen Opernabend absolvierten und beim anschließenden Essen sich in ebensolchen Lobhudeleien ergingen und die agierenden Künstler über den grünen Klee lobten. Der Monaco hatte allerdings ein Telefonat belauscht, bei dem ein Musikkritiker sein Fazit des Opernabends an die Redaktion durchgab, für die er arbeitete. Und bei diesem Kritiker war die Aufführung durchgefallen, glatt durchgefallen. Kurz und gut: der Monaco hat der erlauchten Gesellschaft ihr Halb- und Pseudokunstverständnis um die Ohren gehauen, dass es eine wahre Freude war.
Doch der Freitag Abend war noch nicht zu Ende. Es stand ja noch der Morgen auf Long Island aus. Und der war ein echter Renner. Die Beschreibung hat nicht nur gehalten, was sie versprochen hatte. Sie hat all meine Erwartungen, die zugegebenermaßen zu diesem Zeitpunkt schon gegen Null tendierten, mehr als übertroffen. Das Stück hatte Struktur, Stringenz, Leben, Höhe- und einen Endpunkt. Für mein laienhaftes Musikverständnis war das Filmmusikreif, in jedem Fall ein Hörgenuss und reiflich Entschädigung für das zuvor gehörte. Für dieses eine Stück hatte sich die Fahrt in die Stadt gelohnt, und ich erklärte meinem Mann frei heraus: „Also das mache ich bei Gelegenheit wieder.“ Seine Antwort kann ich beim besten Willen nicht wiedergeben.
Das war die Musik zum Freitag. Der Samstag hatte die schon länger angedrohte ESC-Veranstaltung im Abendprogramm. Ich habe vor gut zehn Jahren – oder sind es doch schon 20? – aufgehört, mir das anzutun, mit wenigen Ausnahmen. Am Samstag jedenfalls haben wir gefühlte zehn Minuten davon gesehen, solange, bis Sing mir das Lied vom Tod begann. In diesen zehn Minuten kam ich aus dem Staunen nicht mehr raus und wurde einmal mehr in meiner ESC-Abstinenz bestätigt. Lang ist es her, als Katja Epstein, Udo Jürgens, Jonny Logan, Abba und Celine Dion bei der Eurovision reüssierten und respektable und allesamt verdiente Karrieren anbahnten. Die Herrschaften, die sich heute dort exaltieren, sind so schnell vergessen, wie sie erscheinen. Eine einzige Traurigkeit: schrill, bunt und vulgär. Viel Blech und Tinte unter der Haut oder bis zur Unkenntlichkeit gestrafft. Das Ganze ist zur Freakshow verkommen, die mit einem absurden Aufwand betrieben wird. Dass Loreen mit einem Song triumphierte, der fast identisch mit ihrem schonmaligen Siegertitel ist, führt das Theater gänzlich ad absurdum. Die deutsche Vertretung kommentiere ich nicht. Dafür fehlen mir die Worte. Die müssten erst erfunden werden, und für so etwas strenge ich mich nicht an.
Gott sei Dank erklang punkt 22 Uhr die Musik von Ennio Morricone. Und gepriesen sei der Herr für die Erschaffung des siebten Tages, der zu Sonntagsmatineen lädt, die mit Kilar, Chopin und Tschaikowski aufwarten. Ich weiß nicht, ob es eine Steigerung für beseelt gibt. Ich kenne auch keine Steigerung für virtuos. Genial vielleicht oder bravourös? Exzentrisch trifft es auch zuweilen. Erhaben ebenso. Ich habe den Pianisten Ivo Pogorelich zum ersten Mal gehört. Was soll ich sagen? Beeindruckt ist viel zu gering, verzückt zu kitschig. Diesen hochgewachsenen, seiner selbst und der Faszination, die von seinem Spiel ausgeht, sicheren Mann umgibt eine Aura, die ich bislang nur bei sehr wenigen Menschen erlebt habe. An dieser Stelle bemühe ich die New York Times, die Ivo Pogorelich mit Horowitz verglich und schrieb: „Er spielte jede Note ganz exakt, mit einem solchen Gefühl, mit so viel Ausdruck. Er war ein ganzes Orchester. Er spielte, als ob er seiner Zeit um 200 Jahre voraus sei.“ Möglicherweise ist der letzte Satz eine Steigerung oder zumindest eine Präzisierung für beseelt.
Ich habe mir jedenfalls gleich die Compilation mit insgesamt 14 CDs gekauft und harre nun seliger Abende.