Kommentar von Markus Langemann//
Ich schreibe diese Zeilen knapp 24 Stunden nach jenem grotesken Schauspiel, das sich Jahr für Jahr in deutschen Vorgärten, Einkaufsstraßen und Wohnzimmern wiederholt – Halloween. Ein Fest, das mit jener beunruhigenden Selbstverständlichkeit in unser Land eingesickert ist.
Was, frage ich, haben wir mit einem alten keltischen Brauch zu tun, der die Grenze zwischen der Welt der Lebenden und der Toten verwischt? Der von irischen Auswanderern nach Amerika getragen und dort zu einer Marketingmaschine pervertiert wurde, bevor er – verpackt in Hollywood-Serien und Plastikgrusel aus Fernost – auf der Überholspur an unserem Erntedankfest vorbeiraste?
Das Erntedankfest, dieser stille, kontemplative Moment, in dem der Mensch seinem Schöpfer dankt. Es war das Fest des Maßhaltens, der Demut, des Bewusstseins. Heute hat es gegen die Fratzen des Kommerzes verloren.
Die Fratze – das ist das eigentliche Gesicht unserer Gegenwart. Eine verzerrte Maske aus Überreizung, Überfluss und Überdruss. Sie blickt uns an aus Reklamewänden, aus Streamingportalen, aus dem Smartphone, das selbst beim Abendmahl nicht schweigt.
Ich erinnere mich, wie meine Tochter als Teenager eine Halloween-Party ausrichten wollte – gemäßigt, harmlos, ein paar bemalte Gesichter, Spinnweben aus dem Party-Store. Ich ließ sie gewähren. Vaterliebe duldet manches. Aber schon damals hatte ich dieses Unbehagen, das heute Gewissheit ist: Etwas ist aus den Fugen geraten.
Die Unschuld des Spiels ist verloren. Übrig bleibt ein aggressiver Zirkus aus Blut, Kunstlatex und Überreiz. Der Tod wird zur Kulisse, das Gruseln zur Pose, und die Kinder – einst mit Laternen beim Sankt-Martins-Umzug unterwegs – schleppen heute Plastikkürbisse voller Zuckergift durch die Straßen. Die letzte Verbindung zu Sinn und Symbolik ist gekappt.
Es ist, als habe die Gesellschaft beschlossen, das eigene kulturelle Gedächtnis auszulöschen – freiwillig, fröhlich und bunt illuminiert.
Man empört sich lautstark über transatlantische Abhängigkeiten, über kulturelle Kolonialisierung, und doch schaukelt dieselbe Klientel ihre blutverschmierten Kinder im Lastenrad von Haustür zu Haustür. Wer über geistige Selbstbestimmung spricht, während er zugleich die Marketingzombies der amerikanischen Unterhaltungsindustrie füttert, der gleicht einem Diätberater im Schnellrestaurant.
Die Fratzen von Halloween sind nur die sichtbare Oberfläche. Dahinter liegt ein tieferes Unbehagen – die Eventisierung unserer Existenz. Alles muss Spektakel sein, jede Jahreszeit ein Anlass zum Konsum, jede Stimmung ein Markt. Die Gesellschaft feiert sich zu Tode. Schon in diesem Monat wird wieder der Blackfriday-Kaufrausch-Kult-Event ausgerollt.
Er fand seinen Weg nach Deutschland im Jahr 2006 – durch eine Marketingoffensive von Apple. Damals lockte der Konzern erstmals mit Preisnachlässen, die im grauen November plötzlich als „Ereignis“ vermarktet wurden. Ein weiterer US-Import also, kein Brauch – eine Rabattidee, getarnt als Tradition. Ein weltumspannendes jährliches Konsumritual – ein Tag, der längst seine schwarze Farbe nicht mehr vom Kalender, sondern von der geistigen Finsternis seines Überschwangs bezieht.
So sehe ich die Fratzen überall. Hier in der grotesken Ganzkörperrüstung der Fahrradfahrer, die in Städten mit Tempo 30 umher torpedieren, als bedrohe sie der Weltuntergang. Dort in den Gesichtern derer, die sich in Cryo-Kammern für ihr Longevity stählen, während ihre Seelen verkümmern. In den Hotellobbys, wo ich telefonisch nicht mehr erfahren darf, ob mein betagter Vater wohlbehalten angekommen ist, weil eine anonyme Stimme mir Datenschutz vorschiebt – eine neue Form der Menschenvermeidung unter moralischem Deckmantel.
Es sind diese kleinen Fenster in den Hof der Hoffnungslosigkeit, durch die man ahnt, wie weit wir schon gekommen sind auf dem Weg der Entmenschlichung.
Vorgestern wurde ich im Auto stoisch an roter Ampel wartend, mit Eiern beworfen. Ich weiß nicht, ob es Andersdenkende waren oder verrohte Halloween-Jünger. Es spielt auch keine Rolle. Die Hemmungslosigkeit ist längst demokratisiert. Jeder darf heute alles, und keiner fragt mehr, ob er soll. „Anything goes“ – das war einmal eine ästhetische Provokation. Heute ist es der moralische Zustand.
Halloween ist da die Liturgie einer gottlosen Konsumreligion. Eine Nacht der Fratzen, die längst Tag geworden ist. Das Diabolische dieser Entwicklung liegt nicht in den Kürbissen oder in den Plastikvampiren. Es liegt in der inneren Gleichgültigkeit, in der Lust an der Entgrenzung, in der Weigerung, Maß zu halten.
Ich weiß, ich klinge altmodisch. Vielleicht bin ich es. Aber die Kultur beginnt dort, wo der Mensch sich selber begrenzt. Wir aber leben in einer Zeit, die Grenzen nur noch als Zumutung begreift – moralisch, sprachlich, geschlechtlich, geistig. Wir stehen am Buffet der Beliebigkeit und glauben, die Freiheit gewählt zu haben.
Es ist dieser Irrtum, der mich umtreibt. Der Verlust von Ernsthaftigkeit, von Feierlichkeit, von der Fähigkeit, zwischen Spaß und Sinn zu unterscheiden. Die Fratzen, die sich einst hinter Masken verbargen, sind heute unsere Gesichter selbst geworden.
Und so sitze ich hier, rund 24 Stunden nach Halloween, und denke an die stillen Feste meiner Kindheit. An das Rascheln der Erntekronen, den Duft von Brot und Äpfeln, an ein Dankgebet, das keine Werbung kannte.
Schelten Sie mich nicht der Humorlosigkeit oder mangelnden Lockerheit. Ich habe in der Medienbranche mein Publikum in jüngeren Jahren zur Genüge unterhalten – wir haben gelacht, bis die Tränen kamen, und ich war mittendrin, lachend, spielend, sendend. Ich weiß, was Freude ist, und ich weiß, wie sie klingt. Sie hat mich nie verlassen. Aber die Lachtränen trocknen schneller. Der neue Asterix hat mich unterhalten, gewiss – aber bei den alten Folgen konnte ich noch Tränen lachen. Vielleicht liegt es an mir. Vielleicht aber auch daran, dass unsere Kultur das Lachen in Pose verwandelt hat, so wie alles andere.
Bin ich ein Relikt? Das ist gut so. Denn wer die Fratzen erkennt, hat wenigstens noch ein Gefühl für das Gesicht nicht verloren.
Und das ist – in diesen Tagen – bereits ein Akt des Widerstands.

6 Antworten
Ein Freund hat mir gerade Fotos von seinen “ Erlebnissen“ in Kalifornien geschickt, darunter von einem Zombie-Bus, der mitten durch die Stadt fährt. „Dekoriert“ mit verschmierten „Blut“, Eiter, Gedärm und losen Körperteilen, der Fahrer selbst mit einer Axt im Kopf am Steuer… Für mich ist das nicht mehr Grusel, sondern schon Ekel, erschreckend abstoßend. Das können nur viele schon nicht mehr unterscheiden, weil sie so abgestumpft wurden durch die Medien (Filme , Literatur, Videoclips), die solche Grenzen auflösen in der Suche nach immer neuen Schock-Effekten. Ist schon schwer, in solchen Zeiten noch sauber zu bleiben.
Der Artikel von Herrn Langemann zeigte heute (4. Oktober!) in einem ALDI-Supermarkt erschreckenden Realitätsbezug. Es war eine Kasse geöffnet, in der Schlange zählte ich 23 Kunden, der Kassierer bemühte sich redlich, quasi im Akkord, zwei Kunden gleichzeitig zu bedienen. An den nicht besetzten Kassen hingen in den Sitzen in Lebensgröße gruselige Halloween-Puppen als Skelette etc. Alle Kassen waren noch über und über mit Spinnweben, Knochen etc. „geschmückt“. Es war ein trostloser Anblick…
Und in einer Quizsendung auch am heutigen Abend wurde die Frage gestellt, welches katholische Fest „man nach Halloween“ feiert…
Kurz gesagt: Wir leben in einer Zeit der kollektiven kulturellen Verwahrlosung. – Das müssen wir aber durchstehen, ich sehe keine andere Möglichkeit, Das Land verlassen kommt für mich nicht in Frage.
Vielleicht entwickelte das tapfere Völkchen der Iren damals eine Art Konfrontationstherapie mit Rollentausch, um der Kommerzialisierung von Hölle und Fegefeuer durch Rom etwas kostenloses entgegenhalten zu können. Die Iren hatten nie viel, waren dafür auf ihre Weise immer wieder einfallsreich.
Tja, und was heute daraus geworden ist – Sie haben ja völlig recht, Herr Langemann.
Ein wertvoller Beitrag an all die Grenzenlosen.
Erschreckend, wenn man sieht, wie der Kommerz immer mehr zum Tragen kommt. Beleuchtete Masken, beleuchtete Kostüme, Schminke, die reflektiert. Fragt man nach dem alten irischen Brauch, bekommt man keine Antwort. Wo ist die Bildung geblieben?
Die Grenzenlosen lesen den Club wahrscheinlich nicht… Ich sehe keine Erfolgsaussichten dagegen. Man muss wohl einfach bei sich selbst bleiben.