von Peter Löcke //
Er beginnt mit der Geburt und endet mit der Todesanzeige. Ich spreche vom Lauf des Lebens, dem Lebenslauf. Ich mag dieses Bild, ich mag die Metapher vom Lebenslauf. Mit zunehmendem Alter stelle ich fest, dass bei meinem eigenen Lauf durch das Leben meine hinterlassenen Fußspuren an Bedeutung gewinnen, während ich zukünftige Schritte kaum noch plane. Auf manche Fußabdrücke bin ich stolz, andere Fußspuren würde ich gerne verwischen. Vielleicht geht es einigen Lesern ähnlich. Es hat etwas Ironisches, dass die ersten Lebensläufe schriftlich formuliert werden noch bevor der eigentliche Lauf beginnt. Zu einem Zeitpunkt also, wo man als junger Mensch wenig auf eigenen Füßen steht, geschweige denn mit diesen Füßen durchs Leben läuft. Man sitzt im warmen Nest des Elternhauses beim Schreiben der ersten Bewerbungen und Lebensläufe. Erinnern Sie sich an Bewerbungen zu früheren Zeiten?
Beruf des Vaters, Angaben zur Mutter und zu den Geschwistern! Solche Informationen galten als Standard in älteren Bewerbungen. Der potenzielle Arbeitgeber wollte schon wissen, aus welchem Stall der Bewerber kommt. Kommt er aus einem guten oder schlechten Elternhaus? Diese diskriminierenden Zeiten sind gottlob vorbei. Bei heutigen Bewerbungen geht es alleine um Zertifikate, Zensuren und Kompetenzen aller Art. Es geht alleine um die Fähigkeiten des Anwärters. Neudeutsch Skills! Nicht nur die soziale Herkunft soll geheim bleiben. Selbst der Name, das Alter, das Geschlecht und das Aussehen wird auf vielen Berufsportalen nicht mehr abgefragt. Kein Arbeitgeber möchte in Verdacht geraten, aus welchen Vorurteilen auch immer Menschen im Vorfeld auszugrenzen. Nun gut. Man kann es auch übertreiben. Manchmal kann eine Benachteiligung oder gar Inkompetenz sogar zum Vorteil gereichen. Wer erinnert sich nicht an die Worte von Dr. Franziska Brantner im deutschen Bundestag? Auch Menschen, die nicht des Lesens mächtig sind, haben laut der Staatssekretärin für Wirtschaft und Klimaschutz aus dem Hause Habeck alle Möglichkeiten im deutschen Bundestag [1]. Bildungsabschlüsse seien unwichtig. Schließlich sei der Bundestag ein Ort der Demokratie.
Dr. Brantner hatte, wenn auch vermutlich unfreiwillig, Recht. Skills, Fertigkeiten, Kompetenzen, Lebens- oder Berufserfahrung sind beim Berufsbild Politiker unwichtig. Es reichen ein überschaubare Bewerbung sowie ein kurzer Lebenslauf. Den Startpunkt des politischen Lebensaufs bildet die Jugendorganisation einer Partei, mittels der Kompetenz Kadavergehorsam bewegt sich der Anwärter vorwärts zu einem möglichst hohen Listenplatz und erreicht dadurch die eigentliche Ziellinie der Kurzstrecke, den in finanzieller Hinsicht gepolsterten Sessel eines Parlamentes. Das erinnert eher an ein gemütliches 100-Meter-Joggen denn an einen anstrengenden Marathon. Abgebrochene Studiengänge, eine kurze Tätigkeit als Taxifahrerin, ein Job als Call-Center-Agent oder ein Praktikum im Theater mögen Wähler nicht beeindrucken. Dennoch handelt es sich in der Realität um unwichtige Kleinigkeiten. Und selbst wenn eine Politikerin vermeintlich Skills hat, indem sie behauptet, sie käme „ausm Völkerrecht“, muss das nicht unbedingt den biographischen Tatsachen entsprechen. Dann wird der Lebenslauf halt aktualisiert und angepasst. Die hinterlassenen Fußspuren werden verwischt und neu gemalt. Als informierter Leser wissen Sie, auf wen ich alles anspiele. Die überschaubare Qualifikation vieler Politiker bei gleichzeitiger Hybris, den Bürgern erklären zu wollen, in welche Richtung sie beim Lauf durch das Leben zu rennen haben, wird häufig diskutiert und wütend kritisiert. Zu Recht.
Der Beruf des Vaters, Angaben zur Mutter und zu den Geschwistern der Politiker? Das wird wenig kritisiert. Gut so. Wir leben ja nicht mehr in den 1980ern. Ob ein Mensch mit goldenem Löffel in einer Körperöffnung aufgewachsen ist oder aus prekären Verhältnissen stammt, interessiert in der Tat nicht. Mit einer Ausnahme. Ich werde hellhörig, wenn der betreffende Politiker wiederholt selbst auf seine Kindheit zu sprechen kommt, um von sich ein gutes Bild zu zeichnen. Zu diesen Politikern gehören Karl Lauterbach und Ricarda Lang.
Der deutsche Gesundheitsminister hatte es „als Sohn des Molkereiarbeiters Wilhelm Lauterbach und dessen Frau Gertrud“ schwer im Leben. „Trotz sehr guter Leistungen erhielt er nur eine Hauptschulempfehlung, was er später als eine Diskriminierung aufgrund seiner familiären Herkunft ansah.“ So steht es auf der allwissenden Enzyklopädie Wikipedia [2], die sich hinsichtlich Vitae auf die Selbstauskunft von Politikern verlässt. Die Botschaft ist klar: Karl Lauterbach musste sich gegen Widerstände im Leben alles selbst erarbeiten. Spätestens seitdem bekannt wurde, dass das Lauterbachsche Elternhaus für 800.000 Euro verkauft werden soll [3], sind Zweifel angebracht, ob die Geschichte der familiären Herkunft wirklich den Tatsachen entspricht oder es sich um eine weitere Lauterbachlegende aus Fantasy-Island handelt. Aus einer gut situierten Familie zu stammen, mag bei alten Bewerbungen von Vorteil gewesen sein, nicht aber bei der politischen Bewerbung im Jahr 2024. Für Image und Umfragewerte ist es für den homo politicus eher zuträglich, die Wähler wissen zu lassen, dass man bereits mit 14 Jahren bei Wind und Wetter Zeitungen austrug. Und damit zur beschwerlichen Kindheit der Ricarda Lang.
„Lang wuchs in Nürtingen als Tochter einer alleinerziehenden Sozialarbeiterin auf, die in einem Frauenhaus arbeitete. Ihr Vater war der Bildhauer Eckhart Dietz.“ [4]
So steht es auf Wikipedia. Damit wirbt die Vorsitzende der Grünen für sich und zwar nicht nur auf der Online-Enzyklopädie sondern gerne auch in Interviews. Ricarda Langs Erzählung geht sinngemäß so: Durch ihre Mutter weiß Ricarda, was ärmliche Verhältnisse und schwere Arbeit bedeuten. Auch ihren Sinn für Gerechtigkeit hat Ricarda von ihrer Mutter, die zwar nicht in der grünen Partei war, dafür aber aktiv in der Frauenbewegung. Wegen ihrer Mutter ist Ricarda Lang in die Politik gegangen, wegen ihrer Mutter sind Ricarda Lang Themen wie eine geschlechtergerechte Bezahlung und Feminismus bis heute eine Herzensangelegenheit.
Diese Lebensgeschichte berührt mich. Frau Lang hat mein spontanes Mitgefühl wie ein jeder Mensch meine Anteilnahme hätte, der mir von einer solchen Kindheit erzählt. In der Tat gibt es kaum etwas Ehrenwerteres als misshandelten Frauen für wenig Lohn zu helfen. Dennoch habe ich Fragen zu den offiziellen Spuren dieses Lebenslaufes, auch auf die Gefahr hin, taktlos zu erscheinen. Wie bereits erwähnt: Aus welchem Stall ein Mensch kommt, ist mir unwichtig. Ich werde nur hellhörig und journalistisch neugierig, wenn ein Politiker von sich aus wiederholt seine Herkunft zum Thema macht. In einem solchen Fall halte ich es für statthaft, taktvoll nachzufragen und die erzählte Geschichte zu hinterfragen.
Warum erwähnt Ricarda Lang niemals den Namen ihrer Mutter und wo kann ich diesen finden? Schließlich hat Ricarda ihrer Mutter laut eigener Aussage alles zu verdanken. Sie war ihr Vorbild und Antrieb in die Politik zu gehen. Warum hat der von Ricarda niemals erwähnte Vater, der mittlerweile verstorbene Bildhauer Eckhart Dietz nicht nur einen Namen sondern sogar einen eigenen Wikipedia-Eintrag [5]?
Vielleicht macht die grüne Parteivorsitzende ja irgendwann das Gleiche wie ich. Den eigenen Lauf des Lebens kritisch betrachten. Die Spuren, auf die man stolz ist, aber auch die Spuren, die man vergeblich versucht, zu verwischen. Dafür ist es nie zu spät. Die Fähigkeit, die man dazu braucht, heißt Ehrlichkeit zu sich selbst. Eine seltene Gabe, wenn Sie mich fragen. Auch ich musste mir diese Gabe im Laufe meines Lebens erst aneignen.
PS: Mit Fußspuren ist nicht der ökologische Fußabdruck gemeint.
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3 Antworten
Wenn Lauterbach, geboren 1963, dann mit 10 Jahren, 1973, nur eine Hauptschulempfehlung bekam, wird das seine Gründe haben. Zu dieser Zeit war die Öffnung der Gymnasien bundesweit schon lange im Gange, schon sehr viel früher in NRWQ. Dort regierte der SPD-Politiker Heinz Kühn (- mit dem für Schulen zuständigen Kultusminister Girgensohn (SPD), einem gelernten Lehrer. Einfluss hatte auch der sehr linke und DDR-freundliche Johannes Rau.
Es ist extrem unwahrscheinlich, daß Herrn Lauterbach wegen seiner sozialen Herkunft der Gymnasialzugang erschwert wurde. Er war wahrscheinlich schlechter Schüler.
Ich kam 1958 nach einer Aufnahmeprüfung zum Gymnasium. Probleme machten bis ca. 1963 viele Gymnasiallehrer, die mir – natürlich wohlwollend – unterstellten, daß ich mich wegen meiner Herkunft in der Akademia nicht würde behaupten können; die mittlere Reife sei für mich angebracht. Damals kamen nur die besten 5% zum Gymnasium; Lauterbach, 1973 ff., kam in einer Zeit dorthin, als das Leistungsniveau bereits deutlich niedriger war.
Stimmt. Ich sage: Traue keinem Lebenslauf, den du nicht selber gefälscht hast! Sachen gibt’s da bei den einschlägigen Portalen, wenn man die Personen kennt, der helle Wahnsinn.
Dem Beitrag gibt es nichts hinzuzufügen, nur habe beim Schlussabsatz ein paar Bauchschmerzen. Welcher Politiker und, gendergerecht, Politikerin kann für sich in Anspruch nehmen, ehrlich zu sein. Ich glaube, solche Menschen gibt es in diesen gehobenen Positionen nicht, dann würden sie nämlich ihre Wahlversprechen einhalten.