Tacheles statt Disclaimer

von Peter Löcke //

Ein Disclaimer ist ein im Internetrecht verwendeter Fachausdruck für einen Haftungsausschluss. Übersetzt bedeutet das englische Verb „to disclaim“ so viel wie „abstreiten“ oder „in Abrede stellen“. Betreiber von Webseiten verwenden aus rechtlichen Gründen Disclaimer. Sie müssen.

Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht in jedem Fall die Meinung des Herausgebers wieder. 

Wenn Sie etwas scrollen, finden Sie unter dem Text verlässlich diesen Satz. Eigentlich ist die Botschaft unnötig. Selbstverständlich sind Langemann & Löcke nicht in allem einer Meinung. Das weiß der Leser und dennoch steht der Satz dort. Mit Disclaimern wird der eigene Arsch juristisch abgesichert. Darum geht es im Kern.

Den eigenen Arsch absichern? Vielleicht sollte ich mich entschuldigen. Vielleicht wäre es klüger gewesen, mich weniger vulgär auszudrücken. In diesem Fall habe ich mit Absicht eine derbe Formulierung verwendet, damit mir eine elegante Überleitung zum eigentlichen Thema dieser Kolumne gelingt. Unsere tägliche Kommunikation ist geprägt von verinnerlichten Disclaimern. Wir distanzieren uns von uns selbst und verwenden Phrasen, die einem moralischen Disclaimer gleichkommen. Hier handelt es sich um Haftungsausschlüsse, die falsche Urteile unserer Umwelt präventiv verhindern sollen. Solche Disclaimer verwenden wir freiwillig. Wir müssen nicht.

Ein jeder kennt Alltagssituationen, die in zwischenmenschliche Interaktionen münden. Die Dialoge und Gesprächsrunden finden statt auf Partys und Familienfeiern, im Wirtshaus, im Supermarkt und im Büro. Ein aktuelles politisches Thema wird angesprochen und noch bevor die eigentliche Meinung geäußert wird, wird die eigene Meinung relativiert.

Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, wenn ich sage (…). Ich leugne wirklich kein Corona, dennoch bin ich der Ansicht (…). Ich bin ganz sicher kein AfD-Wähler, Trump-Fan oder Putinversteher, aber in diesem konkreten Fall glaube ich schon (…).

Haben Sie solche oder andere Disclaimer im Alltag schon bei anderen beobachtet oder fühlen Sie sich gar ertappt? Ich verurteile das nicht, denn der Grund ist nachvollziehbar. Dahinter steckt die Angst vor gesellschaftlicher Ächtung und beruflicher Ausgrenzung. Der eigene Ruf soll abgesichert werden. Schließlich weiß man oft nicht, wie das Gegenüber politisch tickt und denkt.

Der Mensch erklärt sich, noch bevor er sich erklärt. Man gibt dem Gesprächspartner eine Bedienungsanleitung mit auf den Weg, wie er das Gesagte zu verstehen und interpretieren hat. Und vor allem distanziert man sich durch Disclaimer von seiner eigenen Meinung. Ich halte das für gefährlich und außerdem für anstrengend.

Es ist bei weitem nicht nur die Angst vor einer falschen politischen Meinung, die uns zu Disclaimern greifen lässt. Stichwort Sprachpolizei und Cancel Culture. Was darf ich noch wie formulieren, um nicht irgendwie irgendwo bei irgendwem Gefühle zu verletzen?

Ich möchte dir wirklich nicht weh tun, aber (…). Bitte respektiere diese meine subjektive Ansicht, wenn ich nun sage (…). Die Kritik, die ich nun äußern werde, hat wirklich nichts mit deiner Hautfarbe und deinem Geschlecht, sondern (…).

Wir rechtfertigen uns, obwohl wir es nicht müssten. Wir entschuldigen uns im Vorfeld, obwohl es nichts gibt, wofür wir uns zu entschuldigen hätten. Im digitalen Raum verwenden wir Emojis. Auch das sind Disclaimer, damit das Chat-Gegenüber weiß, wie er das von mir Gesagte verstehen soll. Es geht auch anders.

Das Interview von Markus Langemann mit Monika Gruber [1, 2] hat vielen Menschen aus dem Herzen und der Seele gesprochen. Danke für das Feedback. Was für die Kabarettistin gilt, gilt ähnlich für Harald Schmidt. Die Reaktionen auf Podiumsauftritte der Ikone des TV-Entertainments, ähneln den Reaktionen auf das jüngst geführte Interview. Die Menschen sind begeistert und zeigen sich dankbar dafür, etwas zu erhalten, was sie so lange vermisst haben. Was genau ist es, was die Menschen vermissen?

Sind es Schlagfertigkeit und Humor, vielleicht sogar die durchscheinenden politischen Ansichten, die Gruber & Schmidt so populär machen? Das mögen Gründe sein, aber als Hauptgrund vermute ich einen anderen.

Tacheles! Monika Gruber und Harald Schmidt sind noch zwei Menschen, die spontan frei Schnauze reden und aus ihrem Herzen keine Mördergrube machen. Endlich zwei Menschen, die sich keine Gedanken darüber machen, ob das gesprochene Wort moralische Empörung auslösen könnte. Beide kommen ohne vorauseilende Entschuldigungen, ohne Relativierungen, ohne einen Disclaimer aus.  

Das war mal selbstverständlich. Das sollte eigentlich selbstverständlich sein, ist aber vielen Menschen abhanden gekommen. Die um sich greifende staatliche Zensur ist schlimm genug. An der Zensur, die man sich selbst auferlegt, kann man arbeiten. 

Unverhüllt und ohne falsche Rücksichtnahme seine Meinung sagen? Dafür gibt es eine vergessene Redewendung. Tacheles reden! 

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2 Antworten

  1. Man kann offen und direkt sein, ohne unfreundlich zu wirken, man kann sein Gegenüber respektieren, ohne die gleiche Meinung zu haben. Ich nenne das Gesprächskultur. Sie wurde entwickelt um eine Gemeinschaft zusammenzuhalten, Spaltung zu verhindern, einen Austausch zu ermöglichen. Wenn ich meinen Wahlspruch „Erwarte von einem anständigen Ochsen nie mehr als ein gutes Stück Fleisch!“ erinnere, geht es immerhin um einen anständigen Ochsen. Die Menschen sind wie sie sind, die meisten „Im Grunde gut“, frei nach Rutger Bregman. Wir dürfen nicht zu viel erwarten und müssen damit leben, dass es viel Unwissen und Unbildung gibt, gerade unter Habilitierten und Promovierten. Diese unwissenden und armen Seelen glauben, dass ihr Irrtum unmöglich ist, was zeigt, dass ihnen wahre Wissenschaft fremd geblieben ist. Bei derartigen Betonköpfen wird auch der gröbste Keil versagen. Diese Menschen sind in der öffentlichen Meinung über repräsentiert, die schweigende Masse hat oft gesunden Menschenverstand. Niemand sollte glauben, Wähler wären doof. Sie sind nur oft uninformiert und gutgläubig. Gott sei Dank arbeiten die herkömmlichen Parteien ganz aktiv daran diesen Mißstand zu verringern, ein ausdrückliches Dankeschön dafür. Wir können dort unterstützen, indem wir in der Ruhe bleiben und andere Wege aufzeigen. Ich habe da sehr gute Erfahrungen gemacht – auch damit den eigenen Irrtum für möglich zu halten.

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