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Narcissisms and wokisms in the art world

Prof. Heinzlmaier has been active in youth research for over three decades and has contributed significantly to the understanding of youth culture and trends. In an interview with Antje Maly-Samiralow, he talks about the increasing self-absorption and individualization in literature and art, where authors primarily focus on their own, often insignificant lives.
Prof. Bernhard Heinzlmaier im Interview mit Antje Maly-Samiralow//

Warum präsentieren immer mehr Autoren ihr Leben ohne Camouflage in Buchform?

Na, wir leben ja in einer Zeit, wo jegliche Gemeinschaft atomisiert und das Hohe Lied des Individuums gesungen wird. Wir haben es mittlerweile mit einem kollektiven Narzissmus zu tun, indem das Individuum über alles gestellt und göttergleich angehimmelt wird. 

Die Götter kommen uns abhanden und an ihrer statt werden Stars und Sternchen angebetet?

Das ist im Grunde auch nicht so neu. Das hat es durchaus schon gegeben, im Sturm und Drang, ja, da wurde auch das Individuum überhöht. Aber wir leben heute in einer Zeit der Bildmedien. Die Selbstverliebtheit, mit der Menschen Fotos von sich und sogar ihren Kindern posten, spottet jeder Beschreibung. Frei nach Nietzsche: „Gott ist tot! Gott bleibt tot! Und wir haben ihn getötet…“ Und diese Lücke füllt jetzt der Mensch. Sie müssen ja nur einmal durch eine Fußgängerzone gehen und beobachten, wie viele Menschen sich in den Schaufenstern begutachten. 

Attestieren Sie Autoren, die nur über sich schreiben, Selbstverliebtheit? 

Das eigentliche Thema ist das Selbst, das Individuum, und das wird für so interessant gehalten, dass man meint, auch noch darüber schreiben zu müssen. Man macht sich nicht die Mühe, zu recherchieren, man konstruiert keine Charaktere, macht sich auch keine Gedanken über die Zeit, in der man lebt, man fabuliert halt über das eigene, kleine, in der Regel nicht besonders aufregende Leben. 

Ist das so neu? War Dostojewski nicht sein eigener Spieler? Haben nicht Hesse, Camus oder Italo Svevo aus dem eigenen Leben geschöpft, z.T. recht großzügig?

Sicher. Aber ein Dostojewski hat ästhetische Maßstäbe gesetzt. Er hat Psychogramme entworfen, die weit über seine Zeit hinaus Gültigkeit besitzen. Das ist eine hohe Kunst, die nur mit intensiver, aufreibender Arbeit zu erreichen ist. Das ist nicht von ungefähr Weltliteratur. Was meinen Sie, welche Zeit die Protagonisten überdauern, von denen Doris Knecht schreibt, über deren neues Buch wir ja reden wollen?

Verraten Sie es uns?

Ich weiß es auch nicht. Aber sollte je eine Zeit kommen, in der Doris Knecht für einen Menschentypus steht, ist eh alles zu spät.

Woher rühren die Individualisierungstendenzen unserer Zeit?

Ich würde das schon als Konsequenz der postmodernen Philosophie begreifen, wonach Gesellschaft und Gemeinschaft keinen Wert mehr darstellen. Der französische Philosoph Michelle Foucault hat in Anknüpfung an Nietzsche quasi alles relativiert und zu einer Frage der subjektiven Sichtweise erhoben oder degradiert, je nach Standpunkt. Da obliegt alles der Perspektive des Betrachters, und da darf dann auch jeder seine eigene Wahrheit haben. Es gibt keine objektivierbaren Wahrheiten mehr, sondern nurmehr die Wahrheit im Kopf des Einzelnen.

Weshalb der Einzelne dann auch festlegen kann, was er sein will, ob Mann, Frau, Hund oder Huhn.

Genau. Es gibt dann keinen Determinismus mehr. Die Naturgesetze werden quasi für null und nichtig erklärt. An ihre Stelle tritt der Wunsch und damit die Wahrheit der Individuen, die sich dann aussuchen, wer oder was sie sein wollen.

Ist das nicht eine Vortäuschung vermeintlicher Freiheiten, während gleichzeitig errungene und selbst grundgesetzlich verbriefte Freiheiten infrage gestellt und entzogen werden?

Das zieht sich ja durch weite Lebensbereiche. Schauen Sie, Foucault hat das Leben als Netzwerk von Machtverhältnissen postuliert, deren Zweck es ist, den Menschen zu unterdrücken. Die Gemeinschaft ist aus seiner Sicht per se negativ. Aber die positiven Aspekte von Gemeinschaft, dass das Individuum durch die Familie unterstützt wird, dass das Gemeinwesen – wenn Sie so wollen, der Staat – Schutz und Geborgenheit bieten kann, wird negiert. Und da passt es dann eben auch, dass Polizei und Militär zuerst herabgesetzt und dann folgerichtig abgeschafft werden sollen. Wer das kritisiert und darauf hinweist, dass die Polizei möglicherweise für die innere Sicherheit und das Sicherheitsgefühl der Menschen wichtig sein könnte, ist dann eben ein Nazi, nicht.

Die Gemeinschaft, die Familie, Traditionen, alles, was den Menschen Halt und Sicherheit gibt, die sie brauchen, um sich als Individuen innerhalb der Gesellschaft entfalten zu können – das ist ja die eigentliche Dialektik dahinter – wird als vorgestrig denunziert und auf dem Altar des Zeitgeistes geopfert, damit sich das Individuum täglich neu erfinden kann. Und das kann sich dann eben auch, wenn es das meint, als Hund oder Huhn verstehen. Und wenn Sie das irgendwie merkwürdig finden, dann sind Sie inkorrekt, nicht der Mensch im Hundekostüm, der bellt und winselt. 

Sie analysieren die Lebenswelten junger Menschen. Wie groß ist die Diskrepanz zwischen Akademikern und arbeitender Jugend? 

Die leben quasi in unterschiedlichen Universen. Auf einer Loveparade werden Sie kaum Nichtakademiker finden. Vegane Restaurants finden Sie auf dem Land oder in Arbeiterwohnsiedlungen auch eher selten bis gar nicht. Da stehen Schnitzeln nach wie vor hoch im Kurs. Viele junge Menschen, die morgens aufstehen und arbeiten gehen, wählen auch nicht mehr, weil sie eh nicht davon ausgehen, dass das noch was bringt. Die akademische Jugend aus der Stadt geht hingegen schon wählen, und sie wählen natürlich links oder grün. Die sind so von sich überzeugt, dass sie das System, in dem sie leben für das Richtige halten und schauen auf die Leute vom Land, die sie für rückständig halten, herab.

Dass Stadtmenschen die Landbevölkerung belächeln, ist nicht neu.

Das können Sie schon bei Karl Marx lesen, nicht, dass der ländliche Raum ein Raum der Idiotie ist.

Für Marx war Religion auch das Opium des Volkes. Dafür werden Großstädte mittlerweile von immer neuen Ersatzreligionen heimgesucht. 

Ja sicher, an irgendwas muss der Mensch ja glauben. Wenn man Ihnen Ihre Religion und Ihre privilegierte Herkunft als weißer Mensch lange genug madig gemacht hat, dann müssen Sie halt etwas anderes finden, woran Sie glauben können. Im Zweifel glaubt man dann halt an das, was gerade als moralisch hochwertig kursiert.

Raffaela Raab, die in Sachen Tierschutz einen Eifer an den Tag legt, um den sie vermutlich jeder Missionar beneidet hätte, sagte in einem TV-Disput mit Gerald Grosz sinngemäß, dass es lächerlich sei, sich in unserer Zeit auf Religion zu beziehen, und dann hat sie den Begriff ‚Seele‘ als im Jahr 2023 unzeitgemäß disqualifiziert.

Frau Raab ist ein extremes Beispiel für das apodiktische Beharren auf den eigenen Wahrheiten, wie abstrus sie auch sein mögen, bei gleichzeitiger Herabsetzung anderer Lebenshaltungen, die als vorgestrig – oder, um bei Karl Marx zu bleiben – als idiotisch verleumdet werden. Wobei man natürlich nie genau weiß, ob das ihre eigenen Wahrheiten oder auch nur übernommene Wahrheiten sind. Die privilegierten Akademiker können ja mittlerweile jeden Quatsch erzählen, ohne dass das Folgen hätte. Zu den Fragen der Zeit sind sie eh alle einer Meinung. Wir wissen allerdings aus Studien, dass junge Menschen, die etwa beim Ukrainekrieg, bei der Migration, bei Covid, also bei den Schlüsselfragen, eine andere als die offizielle Meinung haben, sich das nicht sagen trauen.

Und doch wird allenthalben auf die Meinungsfreiheit verwiesen.

An der Stelle verweise ich gern auf Idi Amin, der seinen Leuten auch zugestanden hat, zu sagen, was sie wollen. Sie müssten halt damit rechnen, den Krokodilen vorgeworfen zu werden. So drastisch geht es bei uns nicht zu, aber natürlich hat es Konsequenzen, wenn Sie gegen den Mainstream antreten. Die einzigen, die sagen können, was sie wollen, sind die Eliten, die sich brav an die offizielle Lesart halten, und dazu gehören eben auch viele Künstler, die es sich gemütlich eingerichtet haben und nicht auf ihre Privilegien verzichten wollen.

Würden Sie Doris Knecht auch zu den Privilegierten zählen? Meine eigentliche Frage war ja, warum sie ihr neues Buch mit lauter Wokismen würzt. 

Ich vermute mal, dass der Verlag glaubt, um erfolgreich zu sein, braucht es heute Details, die die Regenbogenklischees bedienen. Nur ist die Mehrheit der Leute eben nicht so blöd, dass sie ihnen das abkaufen.

Aber das Buch läuft gut, sehr gut sogar.

Haben Sie es zu Ende gelesen?

Nein.

Und, würden Sie das nächste Buch von Doris Knecht kaufen?

Eher nicht…

Sehen Sie!

Ist sie raus, wenn sie den Zeitgeist nicht bedient oder steht sie möglicherweise dazu, so wie Frau Raab zum totalen Tierschutz?

Doris Knecht ist als junge Frau vom Land nach Wien gekommen. Vielleicht will sie ihre ländliche Herkunft vernichten, weil sie das Land als patriarchal und reaktionär betrachtet. Dafür wird die Stadt als Heiliger Ort überhöht, obwohl es dort keinerlei Ideale gibt. Im Gegenteil: das ist ein städtisches Sodom und Gomorrha, wo mittlerweile alles möglich ist. Und da will sie vermutlich zugehören, um anerkannt zu werden und den Mief der provinziellen Herkunft loszuwerden. Sie schreibt ja auch für den Wiener Falter.

Ein buntes Blatt, das eher links orientiert ist?

Links wäre für das Arbeitermilieu. Das ist der Falter sicher nicht. Heute wählen die Kinder der Oberschicht, die nicht arbeiten müssen und ihre Wokismen wie Monstranzen vor sich hertragen, links, und die Arbeiterschicht wählt zunehmend rechts.

Sehen Sie einen Kulturkampf aufziehen?

Der läuft bereits. Die Akademiker führen einen Kulturkampf gegen die normale, gegen die arbeitende Bevölkerung, denen langsam die Luft ausgeht. 

Wo führt der hin?

Die einen resignieren, die anderen wählen FPÖ in Österreich oder AfD in Deutschland. Sollten diese Parteien verboten werden, wie das bereits in Erwägung gezogen wird, dann haben wir Weimarer Verhältnisse, und dann gehen die Leute auf die Straße. Die, die es sich leisten können, wandern dann aus. Die Leittragenden sind wie immer die Armen.

Über Prof. Bernhard Heinzlmaier: Prof. Bernhard Heinzlmaier, geboren 1960 in Wien, ist ein anerkannter Sozialwissenschaftler und Jugendforscher. 

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2 Responses

  1. Hmm. Nun kommentiere ich doch auch mal…ich bin zwar promoviert, aber ich arbeite doch schon auch…die Verallgemeinerung stößt etwas auf. Ich bin nicht sicher, wieviele Promovierte brav jeden Tag am Laptop ackern, selbst auf dem Bau anpacken oder regelmäßig als Trainer die Kinder bespaßen, aber ich glaube, so allein kann ich nicht sein. Da ist also Potential für ein akademisches, nicht-individuatlistisches Kollektiv…

  2. Leben und leben lassen. Individualität mit Verantwortung gegenüber den Anderen macht eine Familie, eine Sippe, eine Dorfgemeinschaft und ihre städtischen Entsprechungen zu einer guten Idee. Die Vielfalt, nicht die Gleichheit, ist eine wichtige Voraussetzung für eine gesunde Entwicklung, da die Suche nach Wahrheit und Gerechtigkeit so viel leichter gelingen kann. Daran läßt sich folgerichtig die tatsächliche Qualität einer Gemeinschaft abschätzen.. Die Verweigerung von Realität durch politische oder quasi religiöse Eliten war immer ein Zeichen von Unfreiheit, diente immer dazu deren Agenden zu fördern bzw. durchzusetzen. Das gilt für die Neocons und die religiösen Fundamentalisten jeder Konfession genauso wie für Kommunisten oder Faschisten. Tatsächlich selbst zu leben und leben zu lassen ist ein gangbarer Weg zu einem besseren Leben für alle. Leben lassen bedeutet allerdings nicht, die Ideologen machen zu lassen, stattdessen sollten wir ihnen widersprechen, konstruktive Kritik üben, Lösungswege aufzeigen und auch gehen. Immer und immer wieder.

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