Graichen im Keller!

Auf dem mit grünem Filz ausgelegten Billardtischen Berliner Ministerien liegt eine Kugel weniger. Patrick Graichen wurde ins Loch des wohlverdienten Ruhestands versenkt. Zwar war der Mann mit dem Billard-Queue etwas ungeschickt und brauchte mehrere zeitliche Banden. Aber immerhin. Nun hat der Staatssekretär mehr Tagesfreizeit. Das bedeutet in seinem Fall, dass er endlich weniger Zeit mit der Familie verbringen kann. Welch Ironie. Ironisch auch, dass die eigentliche Pointe dieses Witzes um Vetternwirtschaft und Korruption auch von kritischen Medien nicht thematisiert wurde. Wie es sich für eine Pointe gehört, spare ich mir diese für das Ende der Kolumne auf. Zuvor eine Parabel auf diesen Skandal aus dem realen Leben. Ähnlichkeiten zur Causa Graichen sind rein zufällig. 

Nach getaner Arbeit möchte ein Ehemann einen Einkauf erledigen und pünktlich zum Abendbrot im Kreis des Familienclans erscheinen. So der Plan und so die Absprache mit der Gattin, doch alles kommt anders. Er versackt mit einem Arbeitskollegen in einer Gastwirtschaft und kehrt erst um Mitternacht heim. Klimaneutral per pedes, aber dennoch sturzbetrunken und ohne Einkauf. Die Ehefrau erwartet ihn mit einem verbalen Nudelholz, denn bei diesem Vergehen handelt sich um einen klaren Verstoß gegen die ehelichen Compliance-Regeln. Skandal! Es kommt zu einem nächtlichen Untersuchungsausschuss am gemeinsamen Küchentisch. Ganz ohne PR-Beraterstab wendet der sündige Gatte intuitiv drei Techniken zu seiner Verteidigung an. 

Die Phase eins besteht aus vermeintlicher Einsicht bei gleichzeitiger Relativierung der Tat in Kombination mit dreisten Lügen. Der Ehemann – ich nenne ihn Norbert – frisst Kreide und gesteht reumütig seine Schuld. Es war ein Fehler, er werde diesen Fehler aber wieder heile machen. Der sturzbetrunkene Norbert versichert, dass er wirklich nur zwei Bier getrunken habe, sich aber leider nicht bei der Gattin abmelden konnte, da der Akku seines Smartphones leer gewesen sei. Ansonsten appelliert er an seine Frau „Mach doch bitte aus einer Mücke keinen Elefanten.“ Selbstverständlich wirken diese peinlichen Erklärungen wenig besänftigend auf die Ehefrau. Sie wird nur wütender und wirft Norbert vor, dass bereits die Nachbarn lästern würden. Schließlich sei das hier kein Einzelfall. Also zündet der unter Druck geratene Sünder die Stufe zwei der Kommunikationsrakete, die da lautet: Angriff ist die beste Verteidigung!

Der weiche Richterstuhl ist besser gepolstert als die harte Anklagebank. Norberts Sätze fangen an mit „Aber du“. Er möchte viel lieber über die Skandale und Vergehen seiner Frau reden. Da war doch mal eine Affäre mit einem Amigo aus der Nachbarschaft. Und apropos Nachbarn. Die öffentlich-rechtlichen Qualitäts-Nachbarn erzählen nur Gutes über mich, weiß Norbert zu berichten. Er wirft seiner Frau vor, auf den alten weißen Opa rechts neben ihnen und den Wladimir unter ihnen zu hören. Nur ist Norberts Ehefrau mit allen Kommunikationswassern gewaschen. „Lenk mal nicht vom Thema ab! Dieses Mal kommst du nicht damit durch. Der Platz auf der Couch ist dir bereits sicher. Wenn du so weiter machst, entlasse ich dich in den vorzeitigen Ehe-Ruhestand!“ Norbert geht der Allerwerteste auf Grundeis. Er greift zum letzten Strohhalm. Das sind seine Erfolge, seine Verdienste. 

Norbert ist derjenige, der das Geld anschafft. Seiner Ansicht nach ist er derjenige, der die Familie und die Ehe am Laufen hält. Schon oft hat alleine Norbert das ganze System vor einer schweren Krise bewahrt. So zählt er seine vielen vermeintlichen Verdienste auf, die er sich im Laufe der Ehe erworben hat. Und wenn sie nicht geschieden sind, dann streiten sie noch heute.

Vom Norbert zum Robert. Von der Parabel zur Realität und zur angekündigten Pointe. Bei der Aufzählung der Verdienste Graichens hat der Wirtschaftsminister einen entscheidenden Fehler begangen, der je nach Betrachtungsweise skandalös oder surreal komisch ist. Ich spule zurück auf Anfang. Am 28. April 2023 stellte sich Robert Habeck bei „RND vor Ort in Kiel“ den unkritischen Fragen zweier Journalistinnen. Die Trauzeugen-Affäre war noch taufrisch. Dass sie zu einem Dauerskandal ausartet, war noch nicht abzusehen.

„Ich möchte aber hinzufügen dass Patrick Graichen (…) meiner Ansicht nach der Mann ist, der Deutschland vor einer schweren Energiekrise überhaupt bewahrt hat.“

So Habeck. Schon diese Aussage ist diskutabel. Meines Erachtens steckt Deutschland noch immer in einer schweren Energiekrise, aber nun gut. Anscheinend hätte alles noch viel schlimmer kommen können als ohnehin. Noch höhere Preise oder gar ein Blackout? Ich weiß nicht, was die kryptische Andeutung des Wirtschaftsministers bedeutet. Durch welche Entscheidungen konkret hat Graichen denn ganz Deutschland vor einer schweren Energiekrise bewahrt? Jener Graichen, der sich Zeit seines Lebens im epischen Kampf für sogenannte erneuerbare Energien und gegen Kernkraft und Fossilisten befand. Jener Patrick, der wie sein ehemaliger Vorgesetzter nur unter Protest einer AKW-Laufzeitverlängerung bis Mitte April 2023 zustimmte und der den Kohleabbau in Lützerath nur unter größten Schmerzen ertrug. Wie rettete Patrick Graichen, wie rettete „er“ laut Robert Habeck ganz Deutschland vor einer schweren Energiekrise?

„Er ist derjenige, der die Kohlekraftwerke ans Netz gemacht hat, der die Atomkraftwerke hat länger laufen lassen (…).“

Danke für diese Pointe. Man sollte immer ins Kleingedruckte gehen.