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Radikal normal wie Milgram

von Peter Löcke //

Das ist doch nicht normal! 

Wie oft haben Sie diesen Satz schon gesagt, gedacht, gefühlt? Vermutlich sehr oft. Was dem Menschen normal erscheint und was nicht, ist von vielen Faktoren abhängig. Es sind subjektive Faktoren wie unterschiedliche politisch-moralische Vorstellungen, die genossene Erziehung, das soziale Milieu, in welchem man sich bewegt, das Alter und so weiter. Selbstverständlich spielen auch objektive Faktoren wie der vorherrschende Zeitgeist und vor allem Gesetze eine Rolle. Wenn ich vor dreißig Jahren meinen Geburtstag gefeiert habe, stand auf jedem Tisch ein Aschenbecher und meine Gäste hatten die Wahl zwischen Gulasch und Gulasch. Das war damals normal. Heute wäre es unnormal, weil Rauchen in Innenräumen verpönt oder verboten ist und viele Bekannte eine vegane Alternative erwarten. Über Normalität könnte man philosophische Debatten führen. Ich möchte mich auf einen Aspekt konzentrieren, der eine unterschätzte Rolle spielt. Normalität hat immer auch etwas mit Deutungshoheit, Macht und Autorität zu tun. Das ist gut zu erkennen am Milgram-Experiment aus dem Jahr 1961 [1].

The Milgram Experiments. Subject in the Study (c) Yale University

Bei diesem nach dem Psychologen Stanley Milgram benannten Experiment ging es um die Frage, wie weit Menschen bereit sind, Unmenschliches tun, wenn es auf Anweisung einer vermeintlichen Autorität geschieht. Die Menschen gingen leider sehr weit. So war das ernüchternde Ergebnis. Menschen quälten andere Menschen mit Stromschlägen, weil sie an die Autorität des Versuchsleiters glaubten. Ihr eigenes unnormales Handeln erschien ihnen im Kontext des Experiments normal. Das wird schon seine Richtigkeit haben. Das wird schon normal sein.

Ab März 2020 fand ein weiteres Milgram-Experiment statt. Das Versuchslabor war nicht New Haven in den USA, es war die gesamte Welt. Die deutsche Milgram hieß Merkel. Als Autorität, als Mutti der Nation, verkündete die deutsche Bundeskanzlerin am 18. März 2020 in einer TV-Rede das neue Normal [2]. Das Unmenschliche wurde zum Menschlichen erklärt und umgekehrt. Als Erinnerung ein Auszug aus der Fernsehansprache:

„Wir müssen aus Rücksicht voneinander Abstand halten. (…) Kein Handschlag mehr, gründlich und oft die Hände waschen, mindestens eineinhalb Meter Abstand zum Nächsten und am besten kaum noch Kontakte zu den ganz Alten, weil sie eben besonders gefährdet sind.“

Von einem Tag auf den anderen wurde eine neue Normalität definiert. Abstand war die neue Nähe, Kälte die neue Wärme. Der Mensch als empathisches, soziales Wesen wurde ausradiert. Besuchen Sie nicht mehr Opa, umarmen Sie nicht mehr Mama, bleiben Sie distanziert und verhüllen Sie dabei das Gesicht mit einer Maske. Sie haben das ganze Leben lang gewusst, wie wichtig Mimik für die menschliche Kommunikation ist, wie bedeutsam Bewegung und Körperkontakt für die psychische und physische Gesundheit? Das alles war normal für Sie? Von einem Tag auf den anderen war es nicht mehr normal. Ab dem 18. März 2020 war es unnormal, denn all das kann töten. Wenn Sie zu den wenigen gehörten, die bei diesem Milgram-Experiment laut NEIN sagten, wenn Sie also dieses neue Normal nicht akzeptieren wollten, waren Sie ein Wirrkopf und Spinner. So wurden Andersdenkende von Rainald Becker in einem ARD-Kommentar beschimpft, als er prophezeite, dass es keine Rückkehr mehr zur alten Normalität geben werde [3]. Basta!

Corona ist vorbei. Das Thema hat sich erledigt. Der Mensch hat sich menschliche Verhaltensweisen und die alte Lebensnormalität zurückerobert. Das könnte man meinen, doch dem ist nicht so. Schließlich gibt es die drohende Klimaapokalypse. Angesichts der Klimakatastrophe muss die Normalität erneut neu definiert werden, um den bevorstehenden Weltuntergang abzuwenden. Willkommen bei „Futur Zwei“ [4], einem von Peter Unfried moderierten Talk-Format der taz. Ich schaue die Sendung regelmäßig, um zu verstehen, was andere Menschen als normal empfinden.

Zu Gast beim Chefreporter der Berliner Tageszeitung waren in der vergangenen Woche Hedwig Richter und Bernd Ullrich. Richter, Professorin für Neue und Neueste Geschichte an der Universität der Bundeswehr München und ZEIT-Journalist Ullrich, laut Moderator Unfried führender Analytiker der bundesdeutschen Politik, stellten ihr neues Buch vor. Es heißt „Demokratie und Revolution“, Untertitel „Wege aus der selbstverschuldeten ökologischen Unmündigkeit“ [5]. Das klingt sympathisch aufklärerisch, weil es an Immanuel Kant erinnert. Da ich das Buch nicht gelesen habe, kann ich es nicht rezensieren. Beurteilen kann ich jedoch, wie der Weg aussehen soll, den die Menschheit laut der beiden Autoren zu gehen hat. Der Weg liegt in einer neuen Normalität. Hedwig Richter drückt es so aus:

„Unser ganzer Alltag, wie wir Klamotten kaufen, was wir essen, wie wir uns bewegen, all das trägt zur Zerstörung bei und das ist das Normale. Und als radikal gilt, dagegen anzusprechen. Und als radikal gilt sozusagen, wir sollten kein Fleisch essen, wir müssen uns anders fortbewegen. Das ist uns ein ganz wichtiger Punkt in diesem Buch, dass wir sagen, dass sich diese Normalität umdrehen muss, dass wir ’ne neue Normalität brauchen und dass wir aus diesem Normalismus rauskommen, dass es nicht mehr als radikal gilt, darauf hinzuweisen, dass wir in der Zerstörung leben.“

Wir müssen uns also radikal ändern und zwar in allem. Das Radikale muss als normal angesehen werden und das Normale als radikal. Das alte Normal muss radikal durch ein neues Normal ersetzt werden. Ich fasse den Rest zusammen. Es geht um Revolution und Transformation, es geht um Veränderung und diese Veränderung liegt im Verzicht auf alles Gewohnte. Es geht um den Verzicht auf verinnerlichte Verhaltensweisen, menschlicher Lebensträume und Ziele. All diese individuellen Ziele sollen sich gefälligst einem kollektiven Ziel unterordnen. Das kollektive Ziel heißt „Rettung des Planeten“.

Mir gefror während der gesamten Sendung das Blut in den Adern. Ich empfinde die vorgeschlagene Radikalität als dystopisch unnormal. Die drei Anwesenden hingegen betrachten das neue Normal als zwingend erforderlich. Wie eingangs erwähnt – was normal zu sein hat und was nicht, kann zutiefst subjektiv sein. Manchmal liegt die unterschiedliche Wahrnehmung einfach an einer unterschiedlichen Herangehensweise. Ich analysiere die Vergangenheit und lebe im Präsens. Andere Menschen modellieren die vollendete Zukunft und leben wie Peter Unfried in einem Futur zwei. Vielleicht liege ich falsch. Vielleicht bin ich ja unnormal. Es ist gesund, das niemals auszuschließen. 

Eine Kritik werde ich jedoch definitiv aufrecht erhalten. Meine Kritik richtet sich gegen die Heuchelei der Apologeten der Askese, gegen ihre Scheinheiligkeit, andere Menschen zu einem Verzicht aufzufordern, zu welchem sie selbst nicht bereit sind. Es wirkt unglaubwürdig, mit vollem Magen vor einem leeren Buffet zu stehen und dabei rülpsend zum Hungern aufzufordern. Niemand hat es treffender ausgedrückt, als der gutsituierte Eckart von Hirschhausen in einem Interview aus dem September 2021. Er gab es, welch Überraschung, dem Chefredakteur der taz, Peter Unfried.

„Es sind ja gerade die Menschen, die am meisten über Umwelt reden, die objektiv einen höheren Fußabdruck haben, weil sie gebildeter und reicher sind, sich eine größere Wohnung, mehr Autos und Urlaube leisten können. Diese Widersprüche gelten auch für mich.“

Mit anderen Worten? Diejenigen, die am wenigsten von Einschränkungen betroffen sind, sind auch diejenigen, die am lautesten zu Einschränkungen aufrufen. Wie ungebildet diese Hirschhausen-Äußerung ist, behalte ich aus Gründen der Höflichkeit besser für mich. Mein spontaner Gedanke war ein anderer.

„Der Hirschhausen ist doch nicht normal!“

Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht in jedem Fall die Meinung des Herausgebers wieder.

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4 Antworten

  1. Die letzten 30 Jahre habe ich mehrfach von Norden nach Süden dieses Land mit dem Fahrrad durchquert. Und ich habe, bis auf wenige Ausnahmen wahrscheinlich den selben Blick auf die Landschaft genossen wie es schon die Römer taten, die Germanen, Franken und womöglich Neandertaler kurz bevor sie keine Lust mehr hatten und ausstarben. Man kann das Land fast komplett durchfahren, auf Wald- und Wiesenwegen, ohne der Zivilisation zu nahe zu kommen. Bei meiner letzten Fahrt, 2023, war das vorbei. Riesige Stromtrassen durchschneiden Auen und Flure, Windräder machen Wälder und Acker für den Ästhet ungenießbar. Was bleibt sind zerstörte Natur- und Kulturlandschaften. Man muß sich selbst, alle anderen, die Natur und im Grunde die ganze Evolution hassen wenn man so mit einem der saubersten und naturbelassenen Ländern auf diesem Planeten umgeht.

  2. Frau Merkel sprach, bevor sie Kanzlerin wurde, davon, dass sie Durchregieren wolle. Sie war mir nie sympathisch, ich habe ihr keine besondere Fähigkeit als Regierungschefin zugetraut. Sie hat mehr oder weniger die wichtigen Impulse Schröders als ihren Erfolg verkauft, u.a. zugelassen, dass Hartz IV in der Praxis so unmenschlich wurde, dass – viel zu spät – das Verfassungsgericht irgendwann eingegriffen hat. Sie hat die von Kohl zersetzte CDU, die in meinen Augen schon zu seiner Zeit eine sozialdemokratische Partei wurde, weiter geschwächt und ihr Wirken erschöpfte sich darin, ihre Macht zu erhalten. In diese Zeit fiel eine schleichende Gleichschaltung der Gerichte und Medien, die eine wichtige Voraussetzung für das Durchregieren in der Corona Zeit war. Zur taz und zur Zeit möchte ich nach deren Aussagen zu Impfzwang und Waffengeschäften nichts mehr kommentieren. Die weit verbreitete Dämonisierung des natürlichen Klimawandels als von Menschen gemacht läßt viele den Umweltschutz komplett vergessen und bringt uns nicht mehr Lebensqualität und Gesundheit. Wer will, kann da Analogien zum Umgang mit Corona sehen. Allerdings, nach all den Absurditäten der letzten Jahre, sind weite Teile der Bevölkerung aufmerksamer geworden und stellen das allgemeine Narrativ in Frage. Viele sehen eine langsam um sich greifende Legitimationskrise. Nach ganz fest kommt ganz lose… .

  3. Danke, Peter Löcke, dieser Beitrag könnte treffender nicht sein, angesichts der gegenwärtigen Entwicklung in diesem Land. Eine “hochgebildete” Aussenministerin ( nebenbei bemerkt, von der Umweltschutzpartei schlechthin ), sammelt fleißig Bonus-Flug-Meilen, in dem sie wöchentlich mit dem Flieger in der Welt rumtingelt und die Zukunft Europas verteidigt. Welch unqualifizierte Heuchelei. Ein Politiker wird wegen eines Ausspruchs zu einer Geldstrafe verurteilt, während andere für den gleichen Satz zum Minister befördert werden. Das sogenannte Grundgesetz feierte Geburtstag und wurde 2020 durch brutalste, und nebenbei, von der Regierung befohlenes Eindreschen auf friedliche Demonstranten begraben. Eine erweiterte Form des Milgram-Experimentes. Das gab es schon einmal, da hatten die Uniformen eine andere Farbe

  4. Als ich vor drei Jahren morgens die Straße betrat und überall am Boden, an den Wänden, in Schaukästen die über Nacht angebrachte Drohung “Neue Normalität” prangte, lief es mir kalt den Rücken runter. Ich hatte noch gar nicht verstanden, worum es geht, aber beim Anblick dieser Drohung schnell begriffen: so schnell bestimmen andere darüber, was normal und unormal ist. Und wehe, ich mach da nicht mit.
    Was “normal” ist, hat für mich nichts mit Moral, Anstand, richtig oder falsch zu tun, sondern sagt ganz einfach nur etwas über das Mengenverhältnis aus.
    Ob richtig oder falsch sagt mir der gesunde Menschenverstand und kein anderer.

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