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Das Unsagbare denken

von Peter Löcke //

„Lass es bitte eine Beziehungstat sein.“

Als vergangenen Samstagvormittag erste Informationen über einen Mord & eine vermeintliche Geiselnahme getickert wurden, ertappte ich mich bei diesem zynischen Gedanken. Ich las noch Dresden in der Eilmeldung, dann fuhr ich den PC herunter, machte das Smartphone aus, um bei einem Spaziergang frische Luft zu schnappen. Ich wollte auf andere Gedanken kommen. Eigentlich wollte ich das Denken ganz vermeiden. Mein Plan funktionierte nicht. Selbst im Wald sah ich keine Bäume, hörte keine Vögel, roch nicht die schöne Luft. Stattdessen sah ich den Dresden-Film vor meinem inneren Auge.

Live-Ticker und Live-Schalte. In meiner Vorstellung hyperventilierten schnappatmende Reporter. Sie warnten vor voreiligen Schlüssen, um gleichzeitig voreilige Schlüsse zu ziehen. Journalistische Fußtruppen vor rot-weißem Polizei-Flatterband blickten nervös über ihre Schulter, dann wieder zurück in die Kamera. Alles im hektischen Dialog mit dem Moderator im TV-Studio. Der journalistische Doppelpass bestand aus Spekulation und endete mit dem Aufruf, dass sich zurzeit jede Spekulation verbietet. Anschließend spaltete sich mein Kopfkino in zwei konkrete Erzählstränge.

In der ersten Variante sah ich einen ausrastenden deutschen Wutbürger. Einen Amok laufenden alten weißen Mann, eine Art sächselnder Michael Douglas in Falling Down Dresden. Zur Tatzeit trug der glatzköpfige Täter ein Fußball-Trikot und schrie verwirrt „Düüünaaaamoooo“, während er um sich schoss. Aufgespürt und zur Strecke gebracht wurde er von einem Sondereinsatzkommando. Es folgte eine Twitter-Armada aus Politik und Medien, die mit einem Halbwissen an Information und einem Doppel-Wumms an Aggression Konsequenzen einforderte. Der Täter war ein mittelloser Reichsbürger, Putinversteher und Mehrfach-Leugner. Sein Schwipp-Schwager war in der AfD, seine Halbschwester Heilpraktikerin. Soviel war durchgesickert und durchgetickert. Das alles war er definitiv. Definitiv, weil angeblich, offenbar, anscheinend und wohl. Im TV-Studio klären mittlerweile zwei Experten auf. Es gibt nämlich einen Experten-Bereitschaftsdienst, der eine Stunde nach Tatzeit bereit ist, Rede und Antwort zu stehen. In meinem Kopfkino waren dies eine etwas zu aufdringlich geschminkte Diplom-Psychologin, Typ Alena Buyx. Außerdem ein Experte für Rechtsextremismus, den ich noch aus D-Mark-Zeiten kenne. Als Saskia Esken hinzustieß, wurde mein Film surreal. Kafkas Prozess konnte beginnen. Kafka und Esken? Kafkaesken.

Noch körperlich im Wald wechselte ich im Kopf die FiImrolle, um mir den anderen Erzählstrang anzuschauen. Der Film war bedeutend kürzer. Auf der B-Seite war der Täter ein mehrfach vorbestrafter Migrant aus Syrien, der eigentlich abgeschoben werden sollte. Nachfolgend sah ich die identische Twitter-Armada, die mit einem Halbwissen an Information und einem Doppel-Wumms an Moral vor Verallgemeinerung und Instrumentalisierung der Tat warnte. Es war ein Einzelfall, der Täter vermutlich traumatisiert. So viel stand fest. Ansonsten war eine dröhnende mediale Stille zu vernehmen. Die üblichen Experten im TV-Studio waren in Urlaub. Den hatten sie sich aber auch verdient nach so viel Bereitschaftsdienst.

Favorisiere ich den ersten oder zweiten Film? Keinen der beiden. Ich verabscheue jede Form von Gewalt. Ebenso verabscheue ich, dass viele Menschen eine Tat mit ihrem eigenen Weltbild abgleichen, um es zu gewichten. Kein Taktgefühl. Kein Innehalten. Passt der Täter ins eigene Gut-Böse-Weltbild, werden ernste Konsequenzen gefordert. Beißt sich die Tat mit der eigenen Ideologie, wird vor Verallgemeinerung gewarnt. Das Phänomen gilt für links wie für rechts. Beide Seiten versuchen zu skandalisieren. Beide Seiten versuchen zu verharmlosen. So zumindest meine Beobachtung. Daher mein Gedanke „Lass es bitte eine Beziehungstat sein.“ 

Es braucht Abstand. Und Innehalten. Räumlich und zeitlich. Kognitiv und emotional. Um dann die Dinge zu verarbeiten. Das ist mein persönlicher Weg. Dennoch und leider könnte ich Ihnen nicht sagen, ob und welche Menschen mir auf meinem Waldspaziergang entgegenkamen. Wie roch die Luft? Wo bin ich überhaupt hergelaufen? Ich bewundere und beneide jeden Menschen, der das im Gegensatz zu mir kann. Ich bewundere achtsame Menschen. Diese Achtsamkeit hatte ich zumindest im Wald nicht, weil Dresden dieser kleine Tropfen war, der mein Emotionsfass überlaufen ließ. Ich war geschockt, war fassungslos und sprachlos.

Das hält nicht lange an, denn mein Geruchssinn und meine Achtsamkeit kehren zurück. Ich rieche politische Heuchelei und Schauspieleinlagen. Ob nach einem Mord, einem Anschlag oder einer Vergewaltigung. Ob nach dem Tod einer Schülerin in Illerkirchberg, ob nach der Operette der missglückten Rentner-Revolution, ob Dresden. Es ist bemerkenswert, mit wie viel Worten Politiker ihre Sprachlosigkeit zum Ausdruck bringen. Das macht mich betroffen. Pardon. Zutiefst betroffen.

Haben Sie keine Angst. 

Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht in jedem Fall die Meinung des Herausgebers wieder.

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9 Antworten

  1. Liebe Gemeinde,

    ab heute bin ich final durch. Ich weiß natürlich wirklich nicht, welches die wahren Gründe sind, aber ein guter Freund und Nachbar stirbt am Samstag plötzlich und unerwartet in einem relativ jungen Alter. Ich hatte ihn tags zuvor noch putzmunter vor der Haustür gesehen. Irgendwie will ich es auch gar nicht wirklich wissen, es ist scheinbar sowieso unbedeutend…

    Herzliche Grüße.

  2. Scheinbar glauben viele, dass das, was allgemein für Demokratie gehalten wird, die Wahrheit nicht aushält. Schlaue Menschen haben dagegen in der Vergangenheit, schon in den 1950er Jahren in Deutschland, gesagt, dass die Demokratie ohne Wahrheit nicht möglich sein könne. Ich glaube, sie hatten recht. Es ist falsch dem Wähler, dem Souverän, um politische Auseinandersetzungen zu vermeiden, Sand in die Augen zu streuen. So kann er nicht als Souverän entscheiden, sondern wird zur manipulierten Masse. Das kann nicht richtig sein.

  3. Vielen Dank Herr Löcke, wieder einmal ein Kommentar, der ins Schwarze trifft. Mich verwundert in diesem Schmierentheather vor allem die Rolle der Mainstream Journalie. Warum spielen die alle mit? Das sind doch intelligente Menschen. Auch ein Rot-Grüner Durchschnittsideologe – und damit werden die deutschen Redaktionsstuben ja überwiegend bestückt – muss doch an einem gewissen Punkt erkennen, dass hier etwas aus dem Ruder läuft. Wollen die das nicht sehen? Sind die alle gekauft? Werden sie gar unter Druck gesetzt, und wenn ja, von wem? Fragen über Fragen. Kann mir Jemand helfen?

    1. Lieber Herr Mayer,

      ich glaube, auf diese Fragen gibt es keine Antworten. Ich stelle sie mir schon seit Jahren, nachdem ich vor den Trümmern meiner bisherigen Erkenntnisse stand.
      Das Leben wird sich letztlich immer durchsetzen, weil es einfach nicht anders geht. Bleiben wir selbst im inneren Frieden und auf einem wachsamen Beobachtungsposten.

      Schöne Grüße.

  4. Sehr geehrter Herr Löcke, Sie sprechen mir aus der Seele.
    “Kafkaesken” sollte als googler’scher Suchwort- Begriff für die unsäglichen Protagonisten einer vor sich hintreibenden “Ampel- Reg.Koalition” fest installiert werden.
    Genauso wie “scholzen” bei gravierenden, justiziablen?, dreistfrechen & offensichtlichen Lügen vor jedweden Gremien und/od. Gericht vorsorglich zugelassen werden sollte.
    ” habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen” fällt seit ca 3 Jahren noch schwerer als sonst….” in diesem besten Deutschland aller Zeiten”,
    Frische Luft in Gottes freier Natur hilft weiter- und die Kommunikation mit alten Bäumen, die viel über die grenzenlose Dummheit von Menschen- ” Kindern” erzählen können.
    Aber auch sehr viel von Glaube, Liebe und Hoffnung!
    Ich wünsche Ihnen und ALLEN eine gesegnete, Licht-volle vorweihnachtliche Ruhe-/Besinnungs-& Freude Zeit!

  5. Lieber Herr Löcke,

    ich versuche, den Bogen von Ihrer Kolumne zu einem Gespräch zu spannen, das ich gestern in der Apotheke mithörte. Dabei geht es um Wahrnehmung, Einschätzung und informiert sein ganz allgemein. Ein Kunde wollte ein Medikament kaufen, das nicht lieferbar war. Nun wollte der Kunde ziemlich hartnäckig wissen, warum denn Medikamente nicht verfügbar seien. Die Apothekerin wollte offenbar nicht mit der Sprache raus und antwortete ausweichend. Dann gab sie sich einen Ruck und sagte: “Wir haben Krieg und wir haben immer noch Pandemie”…….

    Der Kunde und ich waren uns schnell einig bei der Frage, wieso WIR Krieg haben und wo die Pandemie ist. Er befürchtete, dass der wütende Bürger bald auf die Straße gehen würde. Ich selbst fragte mich, warum diese nette Apothekerin an all das glaubt, was sie sagte. Also, ob ich zu Risiken und Nebenwirkungen meinen Apotheker frage, wird immer unwahrscheinlicher.

  6. Lieber Herr Löcke, besser kann ein solches Ereignis nicht kommentiert werden. In diesem Staat geht leider nichts mehr einen normalen und anständigen Weg. Klimakleber werden verherrlicht, Demonstranten gegen diese menschenverachtende Politik zu Staatsfeinden erklärt. Wo ist nur der sogenannte Verfassungsschutz, um diese Demagogen zu überwachen. Ein Sprichwort sagt: Wer die Wahrheit kennt, braucht ein schnelles Pferd. Es wird Zeit für Veränderungen

  7. Lieber Herr Löcke, bei Ihrer Wortschöpfung “Kafkaesken” habe ich herzhaft gelacht, um im zweiten Teil Ihres Beitrages dann wieder nachdenklich zu werden. Mir fällt in diesen Tagen immer wieder dieser Satz ein: Wenn wir nur lange und intensiv genug genötigt werden, nach rechts zu schauen, merken wir nicht, wie wir links überholt werden. Möge Ihr nächster Waldbesuch ungetrübter sein. Ich habe letzte Woche die Erfahrung gemacht, dass Nebel hilft. Ein Berliner See im kompletten Morgennebel, zusätzlich die Brille in der Tasche verschwinden lassen – es ist so wichtig in dieser Zeit, zwischendurch die “Scharfstellung” des Geistes einfach zu deaktivieren. Danke für Ihre Beiträge!

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