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Schachmatt

von Peter Löcke //

Mögen Sie Schach? Der Sport, wenn man es denn als Sport und nicht als Spiel sehen möchte, ist populärer denn je. Und jeder kann Experte sein. Jeder. Dafür müssen Sie noch nicht mal die Regeln kennen. Ich komme darauf zurück. Doch zunächst eine Reise in die analoge Schachwelt des vergangenen Jahrtausends.

Gespielt wurde ausschließlich over the board, am Brett. Haptisch und sinnlich. Die großen WM-Partien dauerten ewig und wurden nicht selten vertagt. Das hatte etwas Gemütliches, aber auch etwas Langweiliges. Schließlich hält sich der Eventcharakter in Grenzen, wenn ein Großmeister nach langer Bedenkzeit einen pawn, einen Bauer, ein Feld nach vorne schubst. Da ist eine Zeitlupe überflüssig. Das ist vor allem schwer zu vermarkten. Ich war damals das, was man heutzutage einen Nerd nennt. Auf der letzten Sportseite standen im Kleingedruckten die Züge einer Begegnung, die Notation, und ich spielte diese Züge bis zum Ende nach. Mein Ziel war in die Gedankenwelt der Genies einzutauchen, was mir leider mehr schlecht als recht gelang. Manchmal verstand ich noch nicht mal, warum ein Großmeister die Partie aufgab. Aber der Weg ist bekanntlich das Ziel. Learning by doing and viewing.

Das Spiel der Könige ist bis heute ein Motiv in Filmen und in der Literatur. Stefan Zweigs beeindruckende Schachnovelle etwa, in welcher er seine Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus verarbeitet. Wunderbar. Oder auch die Partie zwischen Sherlock Holmes und seinem bösen Gegenpart Dr. James Moriarty im Hollywood Blockbuster „Spiel im Schatten“. Die Welt am Abgrund und vor einem Krieg stehend, beide Genies im Bemühen, den jeweils anderen ins Jenseits zu befördern. Genau in diesem Moment entschließen sich Weltenretter und Weltenzerstörer als Gentlemen zu einer Partie Blitzschach. Wie abgefahren cool ist das denn?

Zurück von der Fiktion in die sich digitalisierende Wirklichkeit. Mensch oder Maschine? Wer ist besser? 1997 gewann mit „Deep Blue“ erstmals ein Supercomputer gegen den damaligen Weltmeister Garry Kasparov. Das war nur der Anfang. Mittlerweile sind selbst die größten Schachgenies wie Weltmeister Magnus Carlsen komplett chancenlos gegen die Engines der Welt. Ein Fortschritt? Mich als Romantiker macht das traurig. Und nein, ich bin kein genereller Skeptiker von Technik und Moderne. Auf Schach bezogen, war ich zunächst sogar ein Freund des Fortschritts. 

Endlich kein Einzelgänger, endlich kein Nerd mehr. Chess wurde vermarktet und verkauft im Netz. Der von mir bevorzugte Schachkanal auf einer nicht näher benannten zensurfreien Plattform hat über 1,2 Millionen Follower. Mit Hintergrund-Anekdoten, Erzähltalent und Schachkompetenz werden dort Klassiker nachgespielt wie die legendäre, weil politisch brisante WM-Partie zwischen Bobby Fischer und Boris Spasski aus dem Jahr 1972. Herrlich. Was gibt es da zu nörgeln? Nichts.

Und dann kam Corona.

Von heute auf morgen wurde Schach kaum noch am Brett gespielt. Schach als durchgehende Zoom-Konferenz. Live. Meine erste Begegnung mit diesem Phänomen blieb auch meine letzte. Es war eine Begegnung der dritten Art. Großmeister A sitzt in seiner Stube in Norwegen, Großmeister B in seiner Küche in Russland, das live übertragene Kommentatoren-Duo sitzt in einem Studio in England. Gespielt wird eine Blitzschach-Variante. Blitzschach ist in. Da passiert wenigstens was. Das ist Event. Neben der eigentlichen Partie werden an einem zweiten digitalen Brett mögliche Züge vom Experten Peter Leko durchgespielt. Schnelle Bildschnitte wie bei MTV. Der alternde Großmeister Leko kommt kaum nach, mögliche Entwicklungen der tatsächlichen Live-Partie anzupassen. Eigentlich bräuchte es eine Zeitlupe. Seine empathische Kollegin Katja, Tanja oder Anja (der Name ist mir entfallen) mit tief ausgeschnittenem Dekolleté interpretiert derweil Gefühlslage und Mimik der beiden Kontrahenten. Rechts am Bildschirm fliegt ein Chat vorbei. Dort regnet es Herzchen und Heiratsanträge. Sex sells.

Katja, Tanja oder Anja schreit erregt auf. „He blundered the game.“ Auf gut Deutsch: Ein großer Patzer, ein Anfängerfehler! Der Russe werde dadurch das Spiel verlieren. Der Chauvinist in mir hat der Dame Unrecht getan. Ich schäme mich, denn ich habe den Fehler übersehen. Doch halt. Eigentlich war es die Computerleiste, die Engine, die den Fehler erkannt hat und nicht die Schachschönheit. Worin der Fehler genau bestand, erklärt anschließend der Experte Leko. Nach zweitem Hinsehen kann er es erklären. Hätte er doch nur früher auf die Maschine geschaut. Die wusste es sofort.

Mensch oder Maschine? Der Mensch lernt von der Maschine. Zumindest beim Schach. Vom Durchschnittsspieler wie ich es bin bis zu Weltmeister Carlsen. Das sagt Carlsen selbst. Sein Coach ist ein Computer. Die Engine weist auf Fehler hin und schlägt Magnus, mir und jedem Schachneuling die besten drei Züge vor in jeder Spiel- und Lebenssituation. Eigenes Denken überflüssig. Mache ich einen Fehler, drücke ich die Tastenkombination „strg + z“. Befehl zurück.

Transhumanismus, synthetische Biologie, künstliche Intelligenz. Mir machen diese Dinge Angst. Mir macht es Angst, dass diese Entwicklungen im Hier und Jetzt stattfinden und nicht in einer fernen Zukunft. Mir macht es Angst, dass die Gefahren ignoriert, achselzuckend zur Kenntnis genommen oder sogar bejubelt werden. Schließlich kann, so die Befürworter-Logik, ein Computer die Probleme lösen, die erst durch den Computer entstanden sind. Vielleicht hinkt mein Vergleich. Vielleicht passt die Analogie zum Schach nicht. Wie ich die Klimahysterie für übertrieben halte, ist vielleicht meine Angst beim Themenkomplex Transhumanismus und künstliche Intelligenz übertrieben. Das schließe ich nicht aus.

Und dennoch: Kennen Sie den ultimativen Kick beim Schach, die extremste und beliebteste Form des Blitzschachs? Bei dieser Variante gibt es kein Gleichgewicht, kein Remis. Da gibt es nur einen Gewinner und einen Verlierer. Die Variante heißt „Armageddon“.

Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht in jedem Fall die Meinung des Herausgebers wieder.

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4 Antworten

  1. Vielen Dank lieber Herr Löcke für diese Zeilen.
    Altmodisch, gestrig mag es sein das Spiel am Brett zwischen zwei Menschen.
    Aber es ist besser als all‘ das was heute zu sehen ist. Spannungsgeladen
    und tiefgreifend. Ich hatte vor vielen Jahren in Marienbad das große Glück
    einen der Berater von Václav Havel kennen zu lernen. Nebenbei war er auch
    noch tschechischer Großmeister. Nachdem die Herren schon auf dem Grün
    Lektionen erteilt bekamen gingen sie am Brett komplett unter. Sehenswert.
    Mögen diese Dinge der Welt erhalten bleiben……

  2. Alles hat seine Zeit.
    So zumindest besagt es dieses alte Zitat.
    Und auch unsere Generation muss sich von Gewohntem verabschieden und der nächsten Generation Platz machen.
    Das ist im ,, kleinen,, Alltag schon schwierig genug.
    Wenn man Kinder und Enkel hat, fallen einem bestimmt eine Menge Begebenheiten ein, wo das zu trifft.

    Lieber Herr Löcke, ihre Kolumne ist rundum gelungen und hat für viel Gesprächsstoff mit meinem lieben Mann gesorgt.
    Danke und bitte noch ganz viel davon.

  3. Als ebenso talentarmer wie begeisterter Schachspieler las ich den Artikel mit Vergnügen. Im Schachverein brachte ich es immerhin zum 8. Brett in zweiter Mannschaft, durchaus mit Erfolg, hab ab und zu gewonnen…
    Weswegen ich schreib: „Armageddon“, den Begriff kannte ich bislang nicht. Wir spielten bei Vereinsabenden, so etwa nach fünftem Bier, gern die verschiedenen Varianten des Räuberschachs (gewinnen tut wahlweise, wer alle Steine des Mitspielers gefangen hat oder umgekehrt, wer zuerst alle Figuren verloren (Schlagzwang!). Und natürlich auch “Führerschach”, das meist dann nach zehntem Bier, da hatte der König in sich Fähigkeiten von Dame und Springer vereint. Einen Bauern auf Grundlinie des Mitspielers zu bekommen war natürlich die Krönung, dann hatte man zwei Führer, das Gemetzel auf dem Brett mag man sich vorstellen.

  4. Sehr sympatisch, die Geschichte. Als Kind einer technisch geprägten und davon auch begeisterten Generation bewegt sie mich ähnlich wie den Autoren: Die Entwicklung bereitet mir Angst. Seit 1977 bewege ich mich, davon lange Zeit beruflich, in der Welt des Digitalen und blieb doch dem Analogen verbunden. Dem Natürlichen verhaftet und verwurzelt, statt des Künstlichen. Weil wir doch Teil des Ersteren sind und Letzteres nur unser Werkzeug oder allgemeiner: unser Werk. „Künstliche Intelligenz“ halte ich aus Prinzip für einen strohdummen Begriff, der Intelligenz missversteht oder gar missbraucht als Werbung in eigener Sache. Auch die Schachcomputer sind nicht intelligent, sondern allein ihre Programmierer und Gestalter!

    Wer ist alt genug und kennt noch den „Kran von Schifferstadt“? 1972 in München bewegte er auf der Matte sensationelle 182 Kilo. Aber nicht als Gewichtheber die Hantel, sondern als Ringer seinen scheinbar übermächtigen US-Gegner per Ausheber auf die Schultern: Wilfried Dietrich war das. Kräne gab es seit dem antiken Griechenland. Auch sie ein Werkzeug, aber nicht fähig zum Schwergewichtsringen. Einfach nicht intelligent genug für diesen Sport. Daher käme auch niemand auf die dumme Idee, sie „künstliche Ringer“ zu nennen, selbst wenn eine technische Spielerei sie irgendwie dazu herrichtete, jeden Ringer dieser Welt zu besiegen oder gar viele zugleich, wie die Schachcomputer. Das Beispiel klingt absurd, aber worauf ich hinaus will, ist das Prinzip. Es ist für mein Verständnis das Gleiche wie bei den neuen digitalen Werkzeugen und darum ist auch „künstliche Intelligenz“ absurd! –

    Mit diesem spontanen, unausgegorenen gedanklichen Rudiment, angeregt durch Peter Löckes Überlegungen, muss ich leider enden. Denn die Arbeit ruft und die naheliegende Frage nach den Unterschieden zwischen den alten und den neuen Werkzeugen, besonders in ihrem Einfluss und ihrer Wirkung auf den Menschen als soziales Wesen, diese Frage sprengt den Umfang meiner Zeit wie den eines Leserkommentars.

    PS. Der zeitlos sehenswerte intelligente Kran 1972, digitalisiert: https://www.youtube.com/watch?v=8i85w6Vc710 (51 Sekunden)

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