Wer frei von Schuld…

von Antje Maly-Samiralow //

… alle Steine mal zurück aufs Pflaster. 

Obwohl es schon verlockend ist, mit dem Finger auf Herrn X oder Frau Y zu zeigen, sich der kollektiven Empörung anzuschließen, die einen neuen Sündenbock auserkoren hat, der medial ausgeschlachtet und anschließend freigegeben wird, um bespuckt, besudelt und gesteinigt zu werden. Es hat ja durchaus etwas Befreiendes, all die angestauten Frustrationen, die Wut, die sich aufbäumen möchte und doch nicht darf, weil man sich nicht traut, Ross und Reiter zu benennen und auch mal anzuzählen, weil man zwanghaft freundlich und zivilisiert sein oder zumindest so erscheinen will. 

Da kommt so ein Delinquent gerade recht, der sich etwas zu Schulden hat kommen lassen, was in unseren Zeiten unter Strafe gestellt gehört. Auch wenn es keinen einzigen Paragrafen gibt, der die Missetat als justiziabel qualifizieren und den Sündigen seiner gerechten Strafe zuführen könnte, hat die Volksseele ihr Urteil bereits gesprochen, und das wiegt – zumal durch sozialmediales Echo wiederholt und verstärkt – schwerer als ein tatsächlicher Gesetzesbruch. 

Beispiele gibt es zuhauf. Die Medienarchive sind voll mit Stories, für die Menschen am Nasenring durch die Manege geführt und vor den öffentlichen Kadi gezerrt wurden und als man sie hinreichend ausgeschlachtet und ihr Ruf endlich irreversibel beschädigt war in den Orkus der Vergessenheit gekippt hat. Selbst wenn sich die Anschuldigungen als unwahr oder nichtig erwiesen haben: irgendetwas bleibt immer kleben. Schließlich steckt in jedem Gerücht ein Körnchen Wahrheit, auch wenn das Gerücht frei erfunden wurde, um Herrn X oder Frau Y zu Fall zu bringen oder sich an ihnen zu rächen. 

Rache ist ein tief im Menschen verwurzelter Drang, ein so archaisches Gefühl, dass wir ständig versucht sind, Rache zu nehmen, wenn auch nur gedanklich oder im Stillen verbalisiert. Rache ist zerstörerisch und endet immer in der Katastrophe, im Krieg – der Länder und Leben zerstört oder das auskömmliche Verhältnis zur Nachbarschaft, zu Kollegen und dem einstmals besten Freund. Die größte Zerstörungskraft entfaltet Rache indes am Ränke Schmiedenden. Wenn die Wut tobt und wütet, öffnen sich die endokrinen Schleusen und spülen so viele Stresshormone in die Blutbahnen, dass man einem wilden Tier gleich nach Angriff lechzt und alles vergiftet, was Leben ausmacht. Schafft es die Rachsucht sich einzunisten und gar die Oberhand zu gewinnen, läuft man im Dauermodus Angriff oder Flucht. Über kurz oder lang liegt alles in Scherben: der soziale Frieden, der innere Frieden und irgendwann die psychische und auch die physische Gesundheit. Wer seine Stressachsen nur immer wieder triggert und dafür sorgt, dass der Strom aus Adrenalin und Cortisol nicht versiegt, kriegt irgendwann die Quittung. Drum wehre man den Anfängen und lasse die Steine ruhen, auf dass sie nicht zerschlagen, was nicht zu kitten sein wird.

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11 Antworten

  1. Mal ehrlich…den Ausspruch von Jesus “Wenn dich jemand auf die linke Wange schlägt, dann halte ihm deine rechte hin” kann man auch missverstehen, nämlich mit “R”. Fragen Sie mal Mike Tyson. Und die Mutter von Jesus war beim Steinigen sicher auch ganz vorne mit dabei…denn sie war ja quasi Sündenfrei.

    1. Alles kann man missverstehen.

      Das Bemühen um Verständnis ist daher der Menschheit Schicksal. Darum gibt es Krieg, Psychologie und letztlich Religion oder auch deren Ersatz. Meine religiöse Prägung der Kindheit, das Bibelwort, so sehr ich mich auch als Erwachsener davon abwandte, hat immerhin Spuren einer Antwort hinterlassen, an die ich in den letzten Jahren immer häufiger denken muss: Den https://de.wikipedia.org/wiki/Turmbau_zu_Babel

      Um ein Haar hätte ich auch Ihren, nun ja, Humor missverstanden und Mike Tysons Rechte nicht recht begriffen.
      😉

    2. Sie haben Matthäus 5,39 nicht korrekt wiedergegeben. Richtig heißt es: “Wenn dich jemand auf die r e c h t e Wange schlägt, dann halte ihm auch die linke hin.” Versuchen Sie mal als normaler (statistisch) Rechtshänder jemandem (andeutungsweise) auf die rechte Wange zu schlagen und überlegen Sie dann, evtl. unter Berücksichtigung der Aussagen der Bibelkennerin Ruth Lapide, was das bedeutet.

  2. Ich denke ein Pendel schlägt immer nach zwei Seiten aus. Je nachdem wie es ausgerichtet ist, wird es erst wenn es zum Stillstand gekommen ist, das gewünschte Ergebnis zeigen. Angenommen ich strebe nach Frieden, so wird sich dieser erst zeigen, wenn dem Unfrieden keine “Energie” mehr zur Verfügung steht. Solange das Pendel mit Energie versorgt wird, schlägt es mal in ein Extrem, um dann ins Andere zu wechseln.
    Wer Krieg will braucht nur den Frieden mit entsprechender Energie stören.
    Die Auswirkungen sehen wir.

  3. Das Problem hierfür scheint mir ist die Unzufriedenheit, der Neid und vor allem das eigene Ich! Jedoch spielt das Umfeld ebenfalls eine markante Rolle, denn Regierungen, von Bürgern für die Bürger gewählt sehen die Lakaien der Politik die sich mehrheitlich für die eigenen Bedürfnisse und die Bedürfnisse der grossen Konzerne, wie Pharma-, Finanz-, Datenkonzerne und Medien einsetzen! Daher wundert es nicht, dass wir hier stehen wo wir Heute stehen?!

  4. Das mag alles richtig sein, sieht aber aus wie eine Aufforderung alles unter den Teppich zu kehren. Nur der Schlusssatz lassen wir ruhen was nicht zu kitten sein wird, jaa das ist Schade aus meiner Sicht weil die Menschen untereinander nicht mehr vergeben können. Allerdings denen die mitgemacht und das Ganze durchgesetzt und befeuert haben die könnte ich durchaus steinigen hätte ich Gelegenheit dazu, ich glaube wenn und soweit gehe ich, Lauterbach, Spahn und die ganze Ampel zum Abschuss freigegeben wären, stände ich in der ersten Reihe und würde klatschen, auch wenn es nur Marionetten sind. Wer ein Pakt mit dem Teufel macht hat es nicht besser verdient.

    1. Zum Abschuss freigegeben, und Sie würden klatschen?Ein solches Vokabular erschreckt mich und ich hätte es im Club nicht vermutet.

      1. Beifall klatschen ist nur das, was eine tumb tobende mediale und politische Meute in den vergangenen Jahren im übertragenen Sinne etlichen Opfergruppen antat. Es denen durch Gleiches zu vergelten, den Impuls zur Rache, kann ich gut verstehen! Denn er überkommt auch mich in Momenten, in denen mich eins der massenhaften Verbrechen im Nachhinein wieder berührt, und entlädt sich dann gelegentlich in Phantasien.

        Dass „alles unter den Teppich“ gekehrt werden könne, ist eine bisher leider allzu berechtigte Furcht, der Frau Bock verbalen Ausdruck verleiht und Antje Maly-Samiralows ebenso berechtigten Warnung vor einer Rachespirale entgegenhält. Jens Spahn in den Knast an Heinrich Habigs statt! Sollte man nicht dereinst etliche „Handschellen klicken hören“, wird dies der psychischen gesellschaftlichen Gesundheit ebenso schaden, wie die ungenügende Verfolgung anderer Staatsverbrechen, etwa die der Nazi-Zeit.

  5. Wie wahr, wie wahr!
    Großartig in Worte gefaßt!
    Rache ist süß heißt es so schön, zeigt aber sehr deutlich die “Dunkle Seite” der menschlichen Seele.

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